Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871 - 1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 16), 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2003, XLI + 445 S., ISBN 978-3-608-60016-2, EUR 42,00
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Der "Gebhardt" hat sich verändert - zumindest in einigen Punkten. Aber ist er auch besser geworden?
Beginnen wir mit den Neuerungen: Das gedrängt formulierte Handbuch, das an seine knappen Kapitel je eigene Bibliografien anhängte und dadurch schon optisch deutlich machte, dass es sich in erster Linie als Nachschlagewerk verstand, trägt nun stärker die Züge eines "Lesebuchs". Nicht, dass auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet würde - es gibt eine "Chronologie des 19. Jahrhunderts", ein Orts- und Sach- sowie ein Personenregister, aber typisch ist, wie mit den bibliografischen Angaben verfahren wird: Sie sind zur Genüge vorhanden, werden aber an den Anfang des Buches gestellt, damit sie in der Folge die Präsentation des Gegenstandes nicht mehr durchbrechen. Dadurch kann der Leser zwischen den Seiten 31 und 401 in eine historische Darstellung eintauchen, die bei aller Kompaktheit und Faktensättigung sehr wohl auch gefällig formuliert ist. Der Autor, den Jürgen Kocka, der Herausgeber der Bände zum 19. Jahrhundert, für das Kaiserreich gewonnen hat, Volker Berghahn von der Columbia University in New York, profitiert hier offenkundig von der angelsächsischen Schule, durch die er seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten hindurchgegangen ist.
Der Aufbau des Buches weist aber noch eine weitere Innovation auf. Während in früheren Auflagen des "Gebhardt" die Politikgeschichte dominierte und die Sozialgeschichte im Verbund mit der Wirtschafts- und Technikgeschichte separat abgehandelt wurde, ist es Berghahn um eine Integration dieser Bereiche zu tun. Auch das Feld der Kultur wird einbezogen. Sogar ein fast schon 'klassisches' Schema wird durchbrochen: Während in den meisten historischen Epochendarstellungen mit der Politik begonnen, mit Wirtschaft und Gesellschaft fortgefahren und am Schluss noch kurz auf die Kultur eingegangen wird, rückt in diesem Buch die Politik an die letzte Stelle. Erst werden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschildert, dann erst der politische Raum analysiert, der in diesen Rahmen eingefügt ist. Die Handlungsfelder sind miteinander verzahnt zu denken und dürfen nicht auseinander gerissen werden. Als besondere Pointe erscheint an allerletzter Stelle die Außenpolitik, von der viele Zeitgenossen und auch spätere Historiker doch meinten, dass die gesamte Verfassungs-, Militär- und Innenpolitik unter ihrem Primat gestanden habe - indem Strukturen geschaffen werden mussten, die Deutschlands Überleben in der prekären "Mittellage" garantierten.
Dieser Aufbau ist zunächst vielversprechend - der Leser ist auf weitere Neuerungen und ungewohnte Perspektiven gefasst. Und die Themenpalette, die der Band anbietet, weist in dieselbe Richtung: Geschlechterordnung und Sexualität, Minderheiten und Randgruppen, Wanderungsbewegungen und Generationskonflikte, also viele Themen, die in vergleichbaren Überblicksdarstellungen bislang nur sehr wenig Beachtung fanden, werden engagiert aufgegriffen. Der Abschnitt zur Kultur geht nicht nur auf die wichtigsten Projekte der Avantgarde ein, auf Naturalismus, Impressionismus und Expressionismus, auf Wagners Idee des Gesamtkunstwerks und die Vorwegnahme vieler Konzepte des Weimarer Bauhauses durch den Werkbund, sondern untersucht auch die Institutionen, die den Kulturbetrieb trugen, und die vielfältigen Erzeugnisse einer wachsenden Massenkultur. Darüber hinaus gibt es Ausführungen zu den Schulen und Universitäten, ja auch zur Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne, die in luziden Beobachtungen zur Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes gipfeln. Hier reagiert die Darstellung angemessen auf den inzwischen erweiterten Interessenhorizont der Allgemeinhistoriker.
Leider ist Berghahns Aufgeschlossenheit gegenüber der neueren Forschung mit dieser thematischen Erweiterung aber auch schon erschöpft. Das Bild des Kaiserreichs, das er mit einigen wenigen differenzierenden Nuancen zeichnet, ist das eines autoritären Obrigkeitsstaates, der eine rigide Klassenherrschaft aufrecht erhielt. Wehlers Wort vom Semiabsolutismus wird zwar nicht zitiert, steht aber offenkundig bei fast allen Ausführungen Pate. Berghahn verschließt sich damit gegenüber jeder Neujustierung der machtpolitischen Rolle des Reichstags, der längst nicht mehr als pseudo-demokratisches "Feigenblatt" eingeschätzt wird, ebenso wie gegenüber den Ergebnissen der Bürgertumsforschung, die Gesellschaft und politische Kultur des Kaiserreichs in viel höherem Maße bürgerlich geprägt sehen, als es die Rede von der Dominanz der alten Eliten stets impliziert hat. Sogar der vielfältig sprudelnde Kulturbetrieb, der auch Raum für ein breites Spektrum von Abweichung und Opposition bot, wird von Berghahn nicht als Indiz für eine - zumindest in einigen Bereichen - tolerantere und weltoffenere Gesellschaft gewertet, sondern mit der Brechstange auf das vorab unterstellte Klassenschema zurückgeführt. Und weiter: Bismarcks Sozialpolitik folgt einer Zuckerbrot und Peitsche-Strategie, bei den Studenten ist ein gefährliches Abdriften in den Illiberalismus festzustellen, der Kaiser ist latent geistesgestört, der Wehrdienst übt den Kadavergehorsam ein ... gesungen wird das alte Lied von einem reaktionären System, das seine inneren Widersprüche so lange nicht löst, ja sogar eskalieren lässt, bis die Katastrophe unvermeidlich ist.
Besonders augenfällig wird Berghahns Vorliebe für traditionelle Forschungspositionen in der kurzen Skizze zur Außenpolitik, mit der er den Band beschließt. Deutschland ist der "Revolutionär" des europäischen Staatensystems, daran wird kein Zweifel gelassen, der die anderen Mächte herausfordert. Hatte Bismarcks Bündnissystem trotz aller Schwächen noch seinen Hauptzweck, die Isolierung Frankreichs und die Sicherung des Friedens, erfüllt, so brachte der Regierungsantritt Wilhelms II. endgültig die Wende zum Schlechteren. Mit Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der Großagrarier wurde Russland verprellt und in ein Bündnis mit Frankreich hineingetrieben, der Erwerb von Kolonien und der Bau einer Hochseeflotte forderten in unerträglicher Weise das britische Empire heraus, und die forsch auftrumpfende Politik in den beiden Marokko-Krisen machte den Ententemächten wie Russland endgültig klar, dass Deutschland eine Hegemonialpolitik betrieb, der man sich mit vereinten Kräften entgegenstemmen musste. Die Konstellation des Jahres 1914, die für das Reich eine Zweifrontensituation und die Gegnerschaft von drei Großmächten bei nur einem eigenen starken Bündnispartner bedeutete, wurde durch Ungeschicklichkeit und Draufgängertum leichtfertig selbst herbeigeführt. Dass große Teile der britischen Liberalen die deutsche Kolonial- und Flottenpolitik keineswegs als Herausforderung empfanden, sondern der Ansicht waren, dass Deutschland auf lange Sicht kaum vorenthalten werden könne, was Mächte zweiten und dritten Ranges wie Belgien, die Niederlande und Portugal ganz selbstverständlich betrieben; dass der geringfügige deutsche Kolonialbesitz nicht nur Konflikte schürte, sondern vor 1914 immer wieder auch als "Spielmasse" für einen politischen Ausgleich benutzt wurde; dass der Politikstil seit der Jahrhundertwende nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Hauptstädten der Welt aggressiver, egoistischer und "schneidiger" wurde; dass auch zwischen England, Frankreich und Russland bis zum Vorabend des Krieges tiefe Gegensätze bestehen blieben, die es keineswegs selbstverständlich machten, dass diese Mächte tatsächlich gemeinsam gegen die Mittelmächte zu den Waffen greifen würden; dass Deutschland immer wieder Annäherungen an Russland und vor allem England versuchte, die sehr wohl auch zu neuen Bündnissen hätten führen können - all dies passt nicht zum vorgefertigten Gesamturteil und wird infolgedessen ausgeblendet. Schade um die Forschung der letzten Dekade, der es so sehr darum zu tun gewesen ist, ein differenzierteres Bild der europäischen Staatenwelt am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu zeichnen!
Auch Berghahns Kulturbegriff ist leider nicht auf der Höhe der aktuellen Diskussion. Kultur wird von ihm als ein bestimmter Sektor innerhalb der Gesellschaft begriffen. Damit wird sie zum Gegenstand einer Beschreibung sozialer Realität, die sich um Vollständigkeit bemüht. Historische Kulturwissenschaft will aber mehr als die Aufnahme des Kulturbetriebs in die Reihe der Gegenstände der Geschichtsbetrachtung - Kultur soll nicht nur Gegenstand, sondern als kulturalistischer Ansatz darüber hinaus auch Methode sein. Weltbilder, Normen und Lebensstile sind nicht nur ein Reflex sozialer Realität, sondern selbst, indem sie menschliches Handeln steuern, eine wirklichkeitskonstituierende Kraft. Diese Dimension des Kulturbegriffs kommt überhaupt nicht in den Blick. Nicht von ungefähr wird gerade die politische Ideengeschichte komplett ausgespart. Auch die neuere Mediengeschichte, die das Klassen- und Schichtenmodell, mit dem Berghahn in Anlehnung an die klassische Gesellschaftsgeschichte arbeitet, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit durchbricht, findet keine Berücksichtigung. Selbstverständlich kann ein Handbuch, das vor allem gesichertes Wissen präsentieren soll, nicht durchgehend mit den avanciertesten Methoden arbeiten. Aber zumindest einen Dialog zwischen Sozial- und Kulturgeschichte hätte man sich gewünscht - zumal die Herausgeber ausdrücklich betonen, dass der vorliegende Band "eine Synthese auf dem neuesten Forschungsstand" (XIV) biete. Eher hat man bedauerlicherweise den Eindruck, als hätten Herausgeber und Verfasser der Versuchung nicht widerstehen können, nach den langen Kämpfen ihrer Jugendzeit gegen das vorherrschende politikgeschichtliche Paradigma nun die Neuauflage des "Gebhardt" dazu zu benutzen, mit derselben Halsstarrigkeit die Ansätze und Positionen der kritischen Sozialgeschichte der Siebzigerjahre zu kanonisieren.
Frank Becker