Mareike König: Deutschlandperzeption und Europadebatte in Le Monde und Le Figaro 1950-1954 (= Frankreich-Studien; Bd. 3), Opladen: Leske & Budrich 2000, 239 S., ISBN 978-3-8100-2704-7, EUR 22,50
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Mit dem Begriff "Perzeptionsparadigma" wird ein ganzer Komplex von Methoden zur Erforschung internationaler Beziehungen bezeichnet, in dem die Wahrnehmung und die Bilder, die Akteure in einem System voneinander haben, eine bedeutende Rolle spielen. Gottfried Niedhart unterscheidet vier Analyseebenen: Informationsaufkommen und selektive Wahrnehmung, konkurrierende Perzeptionen und Realitätstest, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie schließlich Perzeption und Handlungen. Zentrales Anliegen der Perzeptionsforschung sei die Bestimmung des Realitätsgehalts von "Images" und die Erforschung des Kontextes von Perzeption und Handlungen im Bereich der Internationalen Beziehungen.[1]
In ihrer Rostocker Dissertation wendet König dieses Konzept auf Institutionen an, die von großer Bedeutung für die Verbreitung von "Images" sind: Gegenstand der Studie ist die Deutschlandperzeption und die Diskussion wichtiger außenpolitischer Fragen in den zwei großen französischen Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro zwischen 1950 und 1954. Sie untersucht "Wahrnehmung und Wirkung" des Schuman- und Plevenplans sowie der geplanten EVG - das heißt, Vorschlägen zu einer europäischen Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft Anfang der 1950er-Jahre - in den genannten Zeitungen, die zugleich Sprachrohre der einflussreichsten politischen Strömungen der Zeit, der Atlantiker und der Neutralisten, waren. "Es geht um die Meinungen und Sichtweisen der Journalisten über die französische Europapolitik im Spannungsfeld Frankreich - Deutschland - USA in einer Zeit, in der sich die wirtschaftlich erstarkende Bundesrepublik auf dem Weg zur Souveränität befand, während sich Frankreich immer deutlicher - politisch wie wirtschaftlich - mit seinem Abstieg von einer Groß- zu einer Mittelmacht konfrontiert sah" (13).
Ziel der Untersuchung ist weder die Rekonstruktion "gängige[r] Deutschlandstereotypen und -klischees" noch der Versuch, der Wirkung der in den untersuchten Leitartikeln enthaltenen Bilder und Meinungen auf die tatsächliche Ausgestaltung der Außenpolitik und die französische Öffentlichkeit nachzuspüren, sondern eine "Diskurs- und Rahmenanalyse" der zugrunde liegenden Quellen (18). Dies bedeutet, dass der Schwerpunkt sowohl auf die inhaltliche Analyse als auch auf die des Kontextes, in dem die Artikel publiziert wurden, gelegt wird: auf die "politische und ideologische Grundhaltung der Zeitungen und ihrer Autoren", auf die oben genannten zentralen Themen und auf innen- und außenpolitische Interdependenzen sowie die aktuelle weltpolitische Lage im Untersuchungszeitraum.
Die Umsetzung dieses Vorhabens kann durchaus als gelungen bezeichnet werden. Nach einem informativen Porträt der beiden Tageszeitungen - Le Monde, 1944 nicht zuletzt unter Mitwirkung De Gaulles gegründet, dagegen Le Figaro ein Traditionsblatt, dessen Wurzeln bis 1826 zurückreichen, zu dessen Direktoren so illustre Namen wie Paul Morand und André Maurois zählten und für das der junge Raymond Aron regelmäßig Leitartikel schrieb - werden die Debatten unter anderem um die europäische Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft nachgezeichnet. Quellengrundlage dafür sind die im Untersuchungszeitraum erschienenen Jahrgänge von Le Monde und Le Figaro, Erinnerungen damals tätiger Journalisten sowie die gesammelten Beiträge Arons aus dem Figaro. In drei Kapiteln wird die Diskussion des Schuman- und Plevenplans sowie der EVG dargestellt. Plädierte Le Monde nach 1945 für ein neutral zwischen den Blöcken stehendes Europa, gab sich Le Figaro unter seinem Direktor Paul Brisson strikt antikommunistisch und suchte den Schulterschluss mit den USA. Diese Grundhaltungen prägten die Berichterstattung über Deutschland. Bemerkten die Deutschlandkorrespondenten von Le Monde eine Abkehr der Deutschen von Nationalismus, eine Hinwendung zu Europa und einen starken Antikommunismus, stand für Le Figaro die Bedrohung (West-)Deutschlands durch den Kommunismus im Vordergrund.
Die Debatten über Schuman- und Plevenplan werden detailliert dargestellt. Dass im Hintergrund der Debatten immer auch die Frage nach der Rolle Frankreichs im Staatensystem der Nachkriegszeit stand, zeigte sich gerade dann, wenn, obwohl die beiden Zeitungen in der Sachfrage anderer Meinung waren, Versuche der Bundesregierung, gegen Frankreich eigene Interessen durchzusetzen, unisono verurteilt wurden (155). Zugleich belegt gerade die Diskussion über die EVG, wie sehr das Deutschlandbild noch von der Erfahrung des Nationalsozialismus und der Kriegsjahre geprägt war. So wurden in Le Monde Ängste vor einem Erstarken der alten deutschen Militärmacht wach (127 f.), man sah in den geplanten europäischen Streitkräften gar eine "réincarnation" der Waffen-SS (181), ein Gedanke, der ähnlich auch im Figaro formuliert wurde, wo man eine "réconstitution d'une Wehrmacht autonome" befürchtete (201). Gleichwohl befürwortete man beim Figaro schließlich die Bildung der EVG, weil das von einer deutschen Wiederbewaffnung ausgehende Risiko angesichts der sowjetischen Bedrohung als kalkulierbar angesehen wurde. Von einer ressentimentgeladenen Berichterstattung kann jedoch nicht die Rede sein, denn beide Zeitungen boten ihren Lesern immer wieder sachliche Reportagen und Berichte über das Nachkriegsdeutschland (218).
Die "Leser" liefern abschließend dem Rezensenten das Stichwort für eine kritische Anmerkung, die sich aus dem der Studie zugrunde liegenden Ansatz der Perzeptionsforschung ergibt. Denn gerne würde man doch zumindest anhand einiger Beispiele, die sich sicherlich relativ einfach mit Hilfe von Quellenpublikationen hätten finden lassen - auch wenn die Autorin einleitend angekündigt hatte, auf die Untersuchung der Rezeption der in den Zeitungen entwickelten "Bilder" zu verzichten - etwas über Reaktionen und mögliche Wirkungen der Deutschlandperzeption von Le Monde und Le Figaro auf die Entscheidungsträger erfahren. Schließlich ist eines der zentralen Anliegen des "Perzeptionsparadigmas" die Analyse der Beziehungen zwischen Wahrnehmung und Handlung. Damit könnte das abschließende Urteil Königs über die mit "antideutschen Ressentiments durchzogene Stimmung in Teilen des intellektuellen Milieus Frankreichs zu Beginn der 50er-Jahre" (224) möglicherweise präzisiert werden. Zu gerne wüsste man auch etwas darüber, ob zum Beispiel das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter der Nationalversammlung über die EVG oder Deutschlandbilder einzelner Politiker von den Debatten in den Zeitungen beeinflusst wurde. Diese Fragen lässt die hier gewählte "Diskurs- und Rahmenanalyse" offen.
Anmerkung:
[1] Gottfried Niedhart: Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma, in: Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten (Studien zur internationalen Geschichte 10), München 2000, 141-157.
Sven Externbrink