Mareike König / Rainer Ohliger (eds.): Enlarging European Memory. Migration Movements in Historical Perspective, Ostfildern: Thorbecke 2006, 184 S., ISBN 978-3-7995-7458-7, EUR 49,00
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Kann die Vergangenheit Lösungen für die Probleme heutiger Migration und Migrationspolitik anbieten? Laut Enlarging European Memory: Migration Movements in Historical Perspective muss diese Frage positiv beantwortet werden. Die Herausgeber, Mareike König und Rainer Ohliger, und zwölf weitere Historikerinnen und Historiker betrachten soziales Gedächtnis, Gruppenidentitäten und die Erfahrungen und Erinnerungen von Einwanderern als Quellen, die Antworten zu liefern vermögen. Um dieses Material miteinander "verflechten" zu können, verwenden sie u.a. Einsichten des Poststrukturalismus.
In der Einleitung versuchen die Herausgeber und der bekannte Migrations- und Welthistoriker Dirk Hoerder einen neuen analytischen Rahmen für die Migrationsgeschichte zu schaffen. Als Alternative zu dem Nationalstaat schlagen König und Ohliger die subalterne Perspektive vor, die der Außenseiter, der Minoritäten selbst. Hoerder unterstreicht die starke Wirkung interkultureller Beziehungen auf Migrationsprozesse. Er betont, wenn die europäischen Länder die außereuropäische Welt beeinflusst hätten, seien auch Amerika, Afrika und Asien konstitutiv an der "(Re-) Organisierung" Europas beteiligt gewesen.
Teil zwei des Bandes, "Commemorating Migrations since Early Modern Times", besteht aus detaillierten Fallstudien zu französischen, Schweizer, deutschen und tschechischen Einwanderern des Zeitabschnitts zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert.
Alexander Schunka konzentriert sich auf die Wahrnehmung der Identität sogenannter böhmischer Immigranten in Sachsen, die nur teilweise in Böhmen geboren waren und die einer gemischten deutsch-tschechischen Kultur angehörten. In Deutschland waren Pfarrer und andere Intellektuelle die Träger dieser Kultur, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg in Sachsen meistens auf regionaler, während des Nationalsozialismus kurzfristig auch auf nationaler Ebene, entfaltete. In der tschechischen Geschichte haben diese böhmischen Migranten ihren Platz hauptsächlich als tschechische Opfer deutschsprachiger Kultur und deutschsprachiger und/oder katholischer Staaten gefunden.
In Hanna Sonkajärvis Studie zu Straßburg als Immigrationsort geht es um die spezifischen Rechte, die man in der Frühen Neuzeit erwerben konnte. Auch Klaus Weber behandelt detailliert Immigration und Migrationspolitik der frühneuzeitlichen Stadt, hier am Beispiel Hamburgs. Nach 1685 wurde Hamburg zu einer der Städte, in der Hugenotten einen Refuge fanden. Im Gegensatz zu Städten wie Berlin war es in Hamburg dem Schutz von einzelnen Mitgliedern der Oberschicht zu verdanken, dass sich Hugenotten gegen den Willen der Mehrzahl der Hamburger Bürger ansiedeln konnten. Dieser Widerstand habe - so Weber - zu einer schnelleren Integration der Hugenotten in Hamburg geführt.
Mareike König untersucht einen anderen Fall der Diskriminierung von Einwanderern. Die Deutschen, die zwischen circa 1871 und 1900 nach Frankreich und besonders nach Paris immigrierten, stehen im Fokus ihres Beitrags. Diese Immigranten (besonders die Männer) stellten ihr "Deutschsein" nur selten öffentlich zur Schau. Nur als Mitglieder deutscher Organisationen und zu bestimmten Anlässen, wie beispielsweise dem Geburtstag des Kaisers, fühlten die in Frankreich ansässigen Deutschen sich beflissen, ihr Deutschtum zu feiern.
In den genannten vier Fallstudien bleibt das Gedächtnis meistens als individuelle Erfahrung erhalten. Eine ganz andere Rolle wird Gedächtnis und Erinnerungskultur in den Beiträgen unter dem Titel "Troubled and Contested Memories" zugewiesen. Hier ist die Rede von offiziellen und inoffiziellen Gruppen, Vereinen und Organisationen und ihren Bemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Wahrnehmung, Geschichte und Rechte unterschiedlicher staatenloser und staatsangehöriger Migranten auf nationaler und internationaler Ebene zu prägen.
Gewisse Strategien sind denen der vormodernen Fälle ähnlich. Die transsylvanisch-deutschen Einwanderer im Nachkriegsdeutschland produzierten, ähnlich wie Alexander Schunkas Böhmen, polemische Texte, die ihre Identität wahren und festigen sollten - so Pierre de Trégomain. Lavinia Stan analysiert die Medienpolitik rumänischer Exilanten vor und nach 1989, Dovilè Budrytè die "Umschreibung" der Geschichte der baltischen Gebiete im öffentlichen Raum. Wie im Fall von Königs Deutschen bedienten sich diese Immigranten in beiden Fällen einer Mischung von offiziellen Organisationen und individuellen Strategien.
In den beschriebenen Beispielen der Nachkriegszeit allerdings steht der Staat als integrierende oder ausgrenzende Macht im Vordergrund. So unterstützten die Siebenbürger Sachsen beispielsweise ihre Politik der Identitäts- und Privilegienwahrung mit öffentlichen politischen Veranstaltungen im Rahmen von Konferenzen, um mehr Geld und Privilegien vom westdeutschen Staat erhalten zu können. Die nach 1945 staatenlosen DP-Gruppen in Daniel Cohens Beitrag, die viel öfter als andere Migrantengruppen von Staaten als Arbeitskräfte oder "Gebrauchsgegenstände" benutzt wurden, illustrieren die zweite Rolle des Staates.
Der vierte Teil des Bandes beschäftigt sich mit heutigen Einwanderergruppen und ihren aktuellen Repräsentationen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, Österreich und Großbritannien sind hier Beispielländer. Die leitende Frage dieser Beiträge ist, wie sich Einwanderer auf ihre eigene Weise in ihren Auffanggesellschaften darzustellen vermögen.
Im Fall der USA ist es für Immigranten relativ schwierig, sich in öffentlichen Räumen (selbst) darzustellen. Die wichtigsten Museen haben sich für eine integrierende Erzählstrategie entschieden. Hier werden einzelne Einwanderer in der Regel beispielsweise als pars pro toto für die Integration von Einwanderern aus ihrem Ursprungsland beschrieben.
In der BRD sieht man eine Spaltung zwischen den verschiedenen Repräsentationsweisen von Einwanderungsgruppen. Es gibt hier so gut wie keine öffentlichen Denkmäler. Museen und Regisseure haben allerdings versucht, die Schicksale deutscher Gastarbeiter zu analysieren und öffentlich zu präsentieren. Problematisch ist aber, dass die deutsche Gesellschaft keine übergreifende Strategie für die Eingliederung von Ausländern entwickelt hat.
In Österreich ist die Situation ähnlich wie in Deutschland, zumindest bezüglich der sogenannten jugoslawischen Einwanderung. Die Forschung hat sich - so Wladimir Fischer in seinem Beitrag - bislang wenig mit der Identität dieser Gruppen beschäftigt. Diese Forschungslücke will er anhand einer Rekonstruktion von Netzwerken und Lebensläufen individueller Einwanderer schließen.
Myriam Cherti behandelt die Einwanderung marokkanischer Migranten nach Großbritannien seit den 1960er Jahren. Diese Einwanderung verlief nach dem "normalen" Gastarbeitereinwanderungsmuster. Marokkaner in Großbritannien - so Cherti - verstehen sich weder als Großbritannien noch ihrem Herkunftsort zugehörig.
Insgesamt ist dieser Sammelband als Problematisierung der Migrationsgeschichte und -politik zu verstehen. Und hierin erweist sich Enlarging European Memory als erfolgreich. Viele Beiträge thematisieren die Wichtigkeit des dynamischen Austausches zwischen verkörperten Erinnerungen einerseits und schriftlich fixiertem "Gedächtnis" andererseits. Sie zeigen uns damit, dass die vorhandenen Quellen nicht immer die "ganze Geschichte" widerspiegeln. An sich ist diese Erkenntnis keineswegs überraschend, aber Enlarging European Memory lehrt uns, ihren Wert für die Migrationsgeschichte unter Anwendung verschiedener Forschungsmethoden besser zu verstehen.
Enlarging European Memory bietet dem Leser auch mehrere "Erzählmuster", die zur Auswertung von Quellen zur Migrationsgeschichte und der Darstellung der Analyseergebnisse angewendet werden können. So zeigt Dirk Hoerder, dass Migrationshistoriker sich mehr mit wechselseitigen Dynamiken zwischen Staat, Gesellschaft und (Immigrations-)Kulturen statt mit gesellschaftlichen Entwicklungsphasen oder Machtverhältnissen befassen sollten. Gleicherweise demonstrieren Stan, Budrytè, Cohen, Motte, Ohliger und Fischer, dass wir das Schicksal ost- und mitteleuropäischer Einwanderungsgruppen und Minoritäten von 1945 bis heute auch aus der Perspektive der Geschichten der Einwanderer selbst betrachten sollten.
Neben den Leistungen des Sammelbandes ist indes auch ein Problem zu benennen. Die Mehrheit der Beiträge repräsentiert das Gedächtnis von Migranten mittels lieux de mémoire, nationalen Erinnerungspraktiken oder Überlebensstrategien, die von Staaten, ethnischen Gruppen oder Gesellschaften verwendet werden. Es ist klar, dass man nur ab und zu in den einzelnen Beiträgen erkennen kann, wie lebende Erinnerungen innerhalb dieser Narrative funktionier(t)en. Wenn das aber der Fall ist, könnte man auch zugeben, dass man eigentlich nicht mit Erinnerungen arbeitet. Denn wenn wir Quellen generell als "Gedächtnis" oder "Erinnerungen" verstehen, verliert der Begriff seine analytische Schärfe, weil wir die Erinnerungen selbst und ihre Enstehungs- und Übermittlungsprozesse nicht auseinanderhalten. Im Fall von Oral History hat der Forscher idealerweise Zugang zu allen Aspekten von Erinnerung. Aber in vielen anderen Fällen fehlen Aspekte dieser Erinnerungen. Die Frage, die Enlarging European Memory uns implizit stellt, ist diese: Inwieweit kann man von Erinnerungen sprechen, wenn die Tätigkeiten des Gedächtnisses (ob auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene) nur schwer rekonstruierbar sind?
Diese spekulative Frage zu beantworten ist aber nicht die Aufgabe der Beiträger dieses Sammelbandes. Sie haben die Grundlagen für nützliche künftige Forschungsprogramme etabliert, wie man dies idealerweise von einer Konferenz erwarten kann. Dieses Verdienst bleibt den Verfassern von Enlarging European Memory.
W. Douglas Catterall