Thea Vignau-Wilberg: Rembrandt auf Papier. Werk und Wirkung. Rembrandt and his Followers. Drawings from Munich. Mit einem Beitrag von Peter Schatborn. Katalog zur Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung München; München Alte Pinakothek 5.12.2001 - 10.2.2002; Amsterdam Museum het Rembrandt, München: Hirmer 2001, 363 S., 86 Farb-, 85 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-9150-9, EUR 55,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
BA-CA Kunstforum (Hg.): Der Kuss der Sphinx. Symbolismus in Belgien. Mit Texten von Michel Draguet, Dominique Maréchal, Sabine Plakolm-Forsthuber, Ostfildern: Hatje Cantz 2007
Ernst van de Wetering / Bernhard Schnackenburg: Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, Wolfratshausen: Edition Minerva 2001
Conny Dietrich / Hansdieter Erbsmehl: Klingers Nietzsche. Wandlungen eines Porträts 1902-1914. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des "neuen Weimar". Hrsg. v. Justus H. Ulbricht im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Jena: Glaux 2003
Die Staatlichen Graphischen Sammlungen München bewahren einen umfangreichen Korpus von Zeichnungen Rembrandts, seiner Schüler und in seiner Manier, der zu großen Teilen auf die Sammlungstätigkeit des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz zurückgeht. Der zu besprechende Band begleitete eine Ausstellung dieser Bestände, die - um einige wenige Vergleichsbeispiele anderer Sammlungen treffend ergänzt - 2001 in der Alten Pinakothek veranstaltet wurde. Die Herausgeberin Thea Vignau-Wilberg, Referentin für niederländische Zeichnungen der Staatlichen Graphischen Sammlungen, hat zugleich einen Bestandskatalog vorgelegt, der exemplarisch Einblicke in die zeichnerische Praxis in Rembrandts Atelier und in die Rezeption seines Zeichenstils geben kann. Bemerkungen zu den sammlungstechnischen Eigenheiten der Münchner Bestände und ein Verzeichnis der Wasserzeichen - in letzter Zeit eines der zentralen Mittel der Zeichnungsforschung - runden die Publikation ab. Damit liegt erstmals seit der Bearbeitung durch Wolfgang Wegner in den Sechzigerjahren wieder ein Katalog der Münchner Zeichnungen vor, der jüngste Forschungsergebnisse berücksichtigt.
Carl Theodor hatte bereits in seiner Mannheimer Zeit eifrig niederländische Arbeiten auf Papier zusammengetragen, die er 1758 in ein Kupferstich- und Zeichnungskabinett überführte, welches zu den ersten öffentlich zugänglichen derartigen Sammlungen in Deutschland gehörte. Unter der Verantwortung von Lambert Krahe erwarb der Kurfürst dann mithilfe diplomatischer Vermittler in den Niederlanden selbst den Grundstock für den heutigen Rembrandt-Komplex.
Von den 90 Katalognummern werden 16 Zeichnungen Rembrandt selbst zugeschrieben. Einige Radierungen aus Münchner Bestand ergänzten die ausgestellten Werke thematisch, ebenso einige Zeichnungen, die als Leihgaben anderer Sammlungen nach München gereist waren. Diese Verteilung macht ein Problem des Münchner Rembrandt-Komplexes sichtbar, das in einem vorangestellten Aufsatz "Rembrandt auf Papier: die Wertung seiner Werke im 18. Jahrhundert" und ausführlich in den Katalogtexten analysiert wird: der hohe Anteil an Nachahmungen und Fälschungen. Ganz im Gegensatz zur theoretischen Wertschätzung seiner Gemälde im 18. Jahrhundert waren Rembrandts Grafiken und Zeichnungen unter Sammlern ausgesprochen beliebt und erzielten hohe Preise auf Auktionen. Imitatoren versuchten zunehmend, von dieser Beliebtheit zu profitieren. Ein analysierender Blick auf die Münchner Bestände macht deutlich, dass Carl Theodor und seine Agenten in vielen Fällen solchen Imitationen aufsaßen.
Nützlich ist deshalb der Aufsatz von Peter Schatborn, der die Grundzüge der zeichnerischen Technik Rembrandts vorstellt: Rembrandt benutzte Kreide ebenso wie Feder und experimentierte gerne - analog zu seiner Praxis in der Druckgrafik - mit verschiedenen Mischtechniken. So lassen sich einzelne Techniken kaum mit bestimmten Funktionen oder Motivgruppen korrelieren. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass Rembrandt gerne zu Ergänzungen mit Kreide oder Lavierungen griff, um atmosphärische Effekte zu steigern. Unbearbeitete Federzeichnungen legen dagegen in der Regel kompositorische Arrangements im Sinne überzeugender Erzählung fest. Die Imitationen des 18. Jahrhunderts gehen von einer Vertrautheit mit diesen Eigenschaften von Rembrandts Zeichenkunst aus; ihnen fehlt jedoch in den meisten Fällen die Sicherheit, mit der Striche gesetzt und Effekte gesucht werden. In einzelnen Fällen lassen sich mit modernen naturwissenschaftlichen Untersuchungen auch Nachbearbeitungen rembrandtesker Zeichnungen aus dem 17. Jahrhundert aufweisen, wenn Tuschelagen unterschiedlicher Produktionsphasen übereinander liegen. Ein markantes Beispiel ist die nachträgliche Veränderung einer Federzeichnung aus Rembrandts Umkreis in eine Clairobscurzeichnung (Kat. 81). Sie dokumentiert, dass das 18. Jahrhundert an Rembrandt insbesondere Helldunkeleffekte schätzte.
Wie im 17. Jahrhundert üblich, bewahrte der Meister seine Zeichnungen in Mappenwerken auf, die der Instruktion der Lehrlinge dienten. Die Kopien nach Landschaftszeichnungen Rembrandts (Kat. 88, 89, 90) illustrieren trefflich dieses Verfahren. Die - bis auf die Clairobscurzeichnungen und Kopien - thematische Gliederung des Katalogs macht dabei die Zusammenhänge und Abhängigkeiten transparent. Den Auftakt bilden einige Arbeiten, die den Atelierbetrieb reflektieren. Zahlreich erhaltene Schülerzeichnungen sprechen für ein intensives Aktstudium in Rembrandts Werkstatt gegen Ende der 1640er-Jahre. Der Meister selbst hatte ja bereits in der Leidener Zeit einige Male mit Aktdarstellungen experimentiert. In seiner Werkstatt in Amsterdam betrieb er dann offensichtlich ein systematisches Aktstudium. Die ausgestellte Radierung B. 194 "Het Rolwagentje" (Kat. 7) transformiert eine authentische Ateliersituation in eine symbolische Aussage über den Ausbildungsgang des jungen Künstlers.
Im Hinblick auf einen existierenden Lehrbetrieb, den die vorgestellten Arbeiten so anschaulich dokumentieren, ist die fast völlige Abwesenheit von physiognomischen oder anatomischen Studien festzuhalten. Selbst die überlieferten Aktzeichnungen wird man kaum als anatomische Studien bezeichnen wollen. Rembrandt hielt in seinen Zeichnungen in erster Linie die groben Linien seiner Kompositionen oder die Kostümierung und Pose einzelner Figuren fest und animierte offensichtlich seine Schüler, es ihm in dieser Hinsicht gleich zu tun. Immer wieder muss angesichts der wichtigen Rolle, die der Affektschilderung in seinen Historien zukam, überraschen, dass keinerlei physiognomische Ausdrucksstudien von ihm oder seiner Werkstatt erhalten sind - sieht man einmal von der Reihe kleinformatiger radierter Selbstporträts ab, die Anfang der dreißiger Jahre sein eigenes Antlitz in verschiedenen Affektzuständen festhielten.
Großartig sind die Bestände zur Bau- und Ausstattungsgeschichte des Amsterdamer Rathauses. Das bedeutendste Blatt der Sammlung dürfte die Skizze (Kat. 37) zur "Verschwörung des Claudius Civilis" (Nationalmuseum Stockholm) sein, die einen ursprünglichen Zustand des heute fragmentierten Gemäldes dokumentiert. Der Katalogtext vertritt die plausible Hypothese, dass die Zeichnung dazu diente, Veränderungen am fertigen Bild vorzubereiten. Drei Rembrandts Manier nachahmende Skizzen belegen die Popularität dieser Komposition. Darüber hinaus verfügt die Graphische Sammlung über einige Entwurfszeichnungen Ferdinand Bols zu Gemälden aus dem Ausstattungsprogramm des neuen Rathauses. Die fast schon malerische Detailliertheit dieser Blätter belegt die Eigenständigkeit dieses begabten und erfolgreichen Rembrandt-Schülers und lässt ihre Verwendung als 'modelli' für die Amsterdamer Stadtväter vermuten.
Unmittelbar dem Lehrbetrieb scheint die in mehreren Exemplaren vorgestellte (Kat. 31, 79) Technik zu entstammen, ganze Teile ausgeführter Zeichnungen abzuschneiden und durch angeklebte Neufassungen zu ersetzen. Dies geschah wohl, wenn der Künstler eine Komposition vollständig neu arrangieren wollte und/oder eine Korrektur auf dem Blatt nicht mehr möglich war. Letzteres ist als Unterrichtspraxis durch eine von Rembrandt korrigierte Zeichnung Constantijn van Renesses vertreten (Kat. 85). In den Studien zu Historienthemen kontrastieren ausgearbeitete Passagen oft mit weitgehend abstrahierten, in denen die Figuren nur mit sparsam angedeuteten Strichen angedeutet sind. Ziel ist gerade hier die 'dispositio' der Erzählung, die nach der 'inventio' eine entscheidende Rolle im Entwurfsprozess spielte. Die Beziehungen zwischen Rembrandts Zeichnung der "Taufe des Kämmerers" (Kat. 49) und einer Radierung Jan van Vliets mit demselben Thema (Kat. 50) dürften enger sein als behauptet. Ganz im Gegensatz zur Position Schatborns, auf den der Katalog sich beruft, entspricht die Zeichnung Rembrandts nicht seinem Kompositionsstil der Amsterdamer Jahre, in die das Blatt hier datiert wird. Die vertikale Anordnung in die Tiefe gestaffelter Figuren stimmt vielmehr mit seinen durch Lastman beeinflussten Schemata in Leiden überein. Es ist demnach anzunehmen, dass Kat. 49 doch als Ideenskizze für die Radierung Van Vliets (Kat. 50) diente, die dieser dann mit wenigen Veränderungen 1631 ausführte. Die zeichnerische Ausführung scheint dieser frühen Datierung nicht zu widersprechen.
Im Gegensatz zu diesen Kompositionsstudien stehen einzelne Figurenstudien. Die Zeichnung der gehenkten Elsje Christiaens (Kat. 35) beweist Studien vor der Natur, andere Zeichnungen (Kat. 69/70) haben eher Lehrbuchcharakter und dürften nicht auf ein tatsächliches Studium nach dem lebenden Modell zurückzuführen sein. Generell wird ja zu leichtfertig angenommen, dass Zeichnungen reale Situationen illustrieren.
Die instruktiven Katalogbeiträge und zu Gruppen zusammengefassten Blätter vermitteln ein differenziertes Bild von Rembrandts Zeichentechnik und ihrer Verbreitung durch Schüler und Nachahmer. Neu gewonnene Einsichten führen Vignau-Wilberg dazu, die Imitatoren des 18. Jahrhunderts nicht pauschal dem Verdikt der Fälschungen zu unterwerfen. Dem ist beizupflichten. Eine fälscherische Absicht wird man nur unterstellen dürfen, wenn einzelne Blätter durch Signaturen als Originale ausgewiesen werden sollen. An solchen Beispielen ist abzulesen, wie sich Begriff und Rezeption der Originalzeichnung zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert verändern - ein Prozess, in dem noch manche Fragen offen sind.
Stefan Grohé