Peter Geimer: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert (= visual intelligence. Kulturtechniken der Sichtbarkeit; Bd. 4), Weimar: VDG 2002, 228 S., ISBN 978-3-89739-295-3, EUR 20,00
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Es ist eine Abschiedsszene, mit der Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums" endet und die den Kunstconnaisseur beschreibt, der "wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolget, und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt" (1). Das Zitat dieses persönlichen und zugleich programmatischen Abschiedes ist der Beginn einer Untersuchung, die sich der "Vergangenheit der Kunst" zuwendet.
Mit der überarbeiteten Fassung seiner 1997 bei Wolfgang Kemp an der Universität Marburg abgeschlossenen Dissertation legt der Kunsthistoriker Peter Geimer nun einen Text vor, der sich mit den Rezeptionsmechanismen antiker Kunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie mit den Praktiken ihrer Verschriftlichung beschäftigt. Prominent behandelt werden, neben verschiedenen Schriften Winckelmanns, französische, englische und deutsche Reisejournale, die geografisch Italien und die Levante umfassen. Quellengrundlage sind sowohl Berichte von Reisen, die tatsächlich unternommen wurden (von Wood, Stuart/Revett, Choiseul-Gouffier, Houel, Saint-Non), wie solcher, deren Niederschrift einzig die Imagination der beschriebenen Reise vorausging. 18 Abbildungen, überwiegend Reiseberichten und Stichwerken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie der "Encyclopédie" entnommen, sind ein weiterer integraler Bestandteil der Untersuchung.
Konstituierend für die Studie sind die Analyse des Blicks der Reisenden auf das noch Vorhandene des Vergangenen, auf die plastischen Bildwerke und Ruinen, und auf die Speichermedien des (vermeintlichen) Wissens um dieses Vergangene, Bücher und Bilder. Geimer fokussiert das in den besprochenen Schriften und Illustrationen dargelegte Umgehen mit dem Gegenstand und spürt deren "Strategien" auf. Dieser Blick ist ein isolierender, der sein Untersuchungsobjekt seziert, insofern er auf ideengeschichtliche Kontextualisierung oder vernetzende begriffsgeschichtliche Explikationen weitgehend verzichtet und vielmehr durch eine wissenssoziologische Perspektive gelenkt wird. In seiner Konzentration ist dieser Blick jedoch zugleich ein tiefenscharf profilierender.
Methodisch begreift Geimer mit Luhmann "Wissenschaft als System" und perspektiviert in seinem gleichermaßen an Kittler orientierten medientheoretischen Ansatz die Verschriftlichung dieses Systems. Sein Interesse gilt der Wissensgenese, hier der Genese des Wissens um "die Alten", dem systematisierenden Umgang mit diesem Wissen im zeitspezifischen Diskurs sowie der Bewahrung und Tradierung dieses Wissens. Geimer konfrontiert die antiquarischen Inhalte der analysierten Bücher und bildlichen Formulierungen mit den Bedingungen ihrer Erkenntnis und stellt beide, Inhalte sowie deren Genesebedingungen, in ein zeitliches Bezugssystem, das namengebendes Gewicht hat. "Strategien der Nachträglichkeit" nennt Geimer "jene Diskurse des 18. Jahrhunderts", die mit dem "Vergangensein der Kunst" nachträglich umgehen. Dispositiv ist dabei das im Diskurs vorausgesetzte "Vergangensein der Antike", das die Notwendigkeit erzeugt, "in ihre Leerstellen Schriften, Bilder und Phantome einzusetzen" (8). Als Instrument dieses kreativen Vorganges dient die "Einbildungskraft" - ein zentraler Terminus des 18. Jahrhunderts, das sich in vielfacher Couleur der Vergegenwärtigung des Abwesenden verschrieben hatte.
Mit dem Begriff der "Nachträglichkeit" lässt Geimer ein Zeitlichkeitskonzept Freuds, modifiziert in der Rezeption Derridas, aufscheinen. Gebraucht Freud die Vokabel "Nachträglichkeit" allgemein in Verbindung mit der "Lücke im Psychischen", so spricht Derrida von "Effekten des Nachher, der Nachträglichkeit". Es handelt sich um eine nachträgliche Rekonstitution, die sich aus mehreren, zeitlich differierenden Umschriften bildet und die vorhandenen Spuren der Erinnerung nach neuen Bezügen umordnet. Erst das "Ende der Kunst", so lässt sich Geimers Prämisse applizieren, erlaube ihre erinnernde, nachträgliche Beschreibung, erst der fragmentarische Zustand der überlieferten Relikte ist die "positive Bedingung ihrer Beschreibung" (7). In diesem Diktum wird die Wahrnehmungsvoraussetzung von Antiquaren ebenso wie reisender Rezipienten gesehen. Sie hebt auf das imaginative Potenzial des Fragmentarischen ab, dem sich die gegenübersahen, "welche die Ruinen der Antike aufsuchten, um dort mit der Anwesenheit der schönen Reste und der Abwesenheit des noch schöneren Ganzen konfrontiert zu sein" (7). Ruinöser Erhaltungszustand des Antiken und imaginierende Suggestion präsentieren sich demgemäß als untrennbare Einheiten. In ihrer mentalen Kombination mit dem vorbereitend konsultierten Buch findet sich der Nährboden für jenes entstehende Dritte, den Text oder das Bild. Die im- und expliziten Abhängigkeiten von Zeitstrukturen, Sehen, Lektüren und Relektüren werden in vier ungleich gewichteten Kapiteln verortet, für die, das sei angemerkt, auf formaler Ebene eine sorgfältigere redaktionelle Betreuung durchaus wünschenswert gewesen wäre.
"Post-Scriptum" - Nachschrift also - heißt das erste Kapitel der Arbeit, das sich der textanalytischen Interpretation von Winckelmanns kunsthistorischer Schrift "Geschichte der Kunst des Altertums" zuwendet. Geimer versteht diese "als Ergebnis historischer und hermeneutischer Datenverarbeitung" (12). Erst die völlige Abwesenheit des materiellen Relikts biete die Projektionsfläche für die Beschreibung ihrer "Herrlichkeit", einer Beschreibung, die beseelt sei durch den "Geist", dem "Instrument der ergänzenden Betrachtung" (40). Die Aporien und chronologischen Schwierigkeiten, die Geimer in Winckelmanns Systematik erkennt, erläutert er exemplarisch an dessen Klimatheorie. Der Umgang mit Grabungsergebnissen und Neuentdeckungen wird am Beispiel Herkulaneums umrissen und als methodisches Problem der Antiquare thematisiert, die sich auf Grund der unaufhörlich anwachsenden Menge neuer Funde mit dem Obsolet-Sein ihrer Schriften im Augenblick ihres Erscheinens konfrontiert sahen. Geimer beschreibt an dieser Stelle eine sich anhäufende Wissensdifferenz und das daraus folgende Bedürfnis nach Revision und Wissensaktualisierung, dem sich die Wissenschaften mit fortschreitendem Erkenntnisstand allerdings im allgemeinen gegenüber sahen. Auch die Altertumswissenschaft hatte sich ihm mit ergänzenden Verfahren zu stellen, deren dichte inhaltliche Ebene in der vorliegenden Studie zu Gunsten des mediendifferenzierenden Systemprimats jedoch zwingend reduziert und relativiert wird. Entsprechend bleiben auch die vielschichtig verwobenen kommunikativen Netzwerke und deren komplexe Diskurszusammenhänge wenig beachtet, die gleichermaßen konstituierend für das Wissenschaftsverständnis der Zeit waren.
Zurecht fokussiert Geimer im zweiten Kapitel seiner Arbeit das Verhältnis von Wissens- und Reisepraxis, das Reisen als Kulturtechnik. Er fragt danach, welchen Lektürevorlauf die untersuchten Reisen hatten und in welchen Abhängigkeiten dieser Vorlauf zur eigenen Niederschrift stand. Die 1750-1751 tatsächlich unternommene Levante-Reise von Robert Wood, John Bouverie und James Dawkins, ihre Darstellung der antiken Städte Palmyra und Baalbek sowie die Art und Weise ihrer Auswertung historischer Quellen bilden den Schwerpunkt eines Abschnittes. Daneben stehen die fantasierten Antikenbetrachtungen Constantin-François de Volneys und Jean-Jacques Barthélemys hinsichtlich ihres inhärenten antiquarischen Gehaltes.
Bereits Beschriebenes, vor allem in den Schriften antiker Autoren, werde wieder beschrieben, gegebenenfalls die vorgefundenen antiken Inschriften in diesen Prozess der Verschriftlichung miteinbezogen. Dass generell - nicht selten bereits kompilierende - Beschreibungen dem Verfassen der eigenen vorausgingen, dieser assistierten, sie stützten, beglaubigten oder ermöglichten, ist Konsens der historischen Reiseforschung. Es handelt sich hierbei in letzter Konsequenz um einen rezeptionsmultiplikatorischen Vorgang. Geimer folgert in seiner Untersuchung zwar die "Autorität der Buchstabenrepublik" (80), sieht allerdings auch eine Ambivalenz. Die Beschreibungen seien "Reisen in die 'Republick of Letters' und insistierten zugleich auf der Autorität der Orte selbst" (90). Gemeint ist eine Landschaft, die als Geschichtsraum erfahren wird - als Handlungsort, an dem Geschichten stattfanden, wie sie die klassische Literatur, und prominent die homerischen Epen, überlieferte.
Den Übergang zur Betrachtung architektonischer Stichwerke im dritten Kapitel, in denen Monumente in ruinöser und rekonstruierter Fassung wiedergegeben werden, bildet die Thematisierung der künstlichen Ruinen, wie sie sich in den Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts fanden. Wie die "Ruine auf Reisen", so seien "auch künstliche Ruine und Ruinenbild Relais, die antiquarisches Wissen in Einbildungskraft übertrugen" (154). Ruinenbilder und fiktiver Reisebericht schwebten "zwischen Fiktion und antiquarischer Gelehrsamkeit: nach den Regeln einer Ordnung des Wissens, in der Fiktionen gelehrt und Gelehrsamkeit fiktiv war". (154 f.). Den Reproduktionen der Ruinen - die der plastischen Kunstwerke spielt für Geimer an dieser Stelle keine Rolle mehr - kommt maßgebliche Bedeutung zu: Endet die "Kompetenz der Buchstaben", so beginnt "die Autorität der Bilder", die das Altertum anschaulich machen und, etwa bei Montfaucon, als Auswahlkriterium dienen (163). Durch die Einheiten "Vorher/Nachher" werden Zeitstrukturen berücksichtigt, wie dies auch in der "Encyclopédie" und ihren rekonstruierenden Abbildungen der Monumente der Fall ist. Sie präsentieren sich in einem Zustand der Intaktheit, der jedoch ein vergangener ist.
Das vierte und letzte Kapitel rekurriert auf die reflexive und selbstironische Potenz des antiquarischen Diskurses des 18. Jahrhunderts. Sie wird an der Stadtbeschreibung "Tableau de Paris" von Louis-Sébastien Mercier demonstriert, in der Mercier die Zukunft der Stadt Paris als Ruine sieht. Er lese die "Reste des Altertums als Zeugnisse der Zukunft" (203) und markiere damit das archäologische Modell als epochenübergreifende Strategie, der die "Ungewißheiten des Gewesenen" (214) und die Zweifelhaftigkeit der Rekonstruktion anhaften.
Mit ihrem Bezug auf einen Dekonstruktivismus Derridascher Prägung partizipierte die Arbeit Geimers an einem, zur Zeit ihrer Entstehung in Deutschland noch vergleichbar frischen, interdisziplinär-literaturwissenschaftlich orientierten Theorieinteresse der kunsthistorischen Disziplinen. Dieses auf den vielschichtig verwobenen Themenkomplex der Antikerezeption zu übertragen, ist neu und ertragreich zugleich. Erlaubt es ein solcher Ansatz doch, die oftmals an ihre Sichttradition gebundene Klassizismusforschung zu unterlaufen und dem erst jungen wissenschaftshistorischen Interesse der archäologischen Disziplin an einem komplexen wie spannenden Gegenstand eben durch das streng axiomatische Verfahren anregende Impulse zu geben. Allerdings sind es gerade die Komplexität und Vielfalt, die der Strenge geopfert werden müssen und Gefahr laufen, an den Rand und somit in den Bereich des Unscharfen zu geraten. Geimer ist sich der Problematik durchaus bewusst, wenn er die "Disparatheit des Gegenstandes" (12) zu bedenken gibt. Dennoch gelingt es ihm, die Matrix einer wissenschaftspraktischen Beschreibung zu skizzieren, an deren Ende die Differenz von Kunst und Text steht und deren Lektüre allemal belebend sein wird.
Adelheid Müller