Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, 2., verbesserte Auflage, Hamburg: Junius Verlag 2010, 229 S., ISBN 978-3-88506-666-8, EUR 14,90
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Als der kanadische Künstler und Kunsttheoretiker Jeff Wall im Jahr 1997 an der "documenta X" teilnahm, präsentierte er eine Reihe großformatiger Bildinszenierungen in Schwarzweiß. Die Fotos ließen sich als bewusster Rekurs auf die Tradition der US-Dokumentarfotografie werten, zugleich war der Inszenierungscharakter unverkennbar. Wall selber hat diese und andere Bilder unter dem Begriff einer "cinematografischen" Fotografie gefasst. Wenn der Berliner Kunsthistoriker Peter Geimer am Ende seiner Einführung in die "Theorien der Fotografie" eines der Bilder dieser Serie präsentiert und mit theoretischen Überlegungen von Jeff Wall unterfüttert, geht das nur folgerichtig aus der argumentativen Logik seines Buches hervor. Denn, wie kaum ein anderer Künstler und Theoretiker, kann Wall für den im Laufe des Buches herausgearbeiteten Standpunkt des Autors einstehen, dass die Theorie der Fotografie nicht notwendigerweise unanschaulich ist. "Die verschiedenen Theorien der Fotografie stehen also vor der Herausforderung", so Geimer in seiner Einleitung, "dass sie von Fotografien ausgehen müssen, andererseits aber die Fotografie in den Blick nehmen wollen." (10)
Ausgehend von dieser Leitfrage stellt das Buch die maßgeblichen theoretischen Ansätze vor, die Anschauung und Begriff des fotografischen Bildes zu erfassen versucht haben. Insgesamt ist es in fünf Kapitel gegliedert: Auf eine Erläuterung der Theorien des Abdrucks, des Index und der Spur folgt eine Darlegung der Bestimmung der Fotografie als Konstruktion. Daran schließen sich Kapitel über die Zeitlichkeit des fotografischen Bildes, seine Reproduzierbarkeit und seine Definition als Kunst an. Auch wenn damit die wichtigsten Ansätze in der Theorie der Fotografie vorgestellt werden, bleibt es doch nicht bei einer bloßen Addition. Das Thema wird vielmehr "aus der spezifischen Perspektive des Verfassers" (12) dargestellt.
So gibt es von Anfang bis Ende eine deutliche Parteinahme für die Theorie des Abdrucks als einer Dimension des Fotografischen. Als einer der Ersten hat die Begrifflichkeit des "Abdrucks" William Henry Fox Talbot in seiner Publikation The Pencil of Nature [1844-1846] verwendet. Der Automatismus der Kamera, der das Bild von selbst entstehen ließ, hatte für die frühen Theoretiker etwas Faszinierendes, ja Magisches. Die Formel des nicht von Menschenhand gemachten Bildes verwies auf die "Virulenz einer Leerstelle" (63), die ihr Faszinationspotenzial jedoch keinesfalls in der Frühzeit der Fotografie verbraucht hat. Auch spätere Autoren wie Charles Sanders Peirce, Siegfried Kracauer, Rosalind Krauss, der späte Roland Barthes und Philippe Dubois sowie George Didi-Hubermann haben sich bei aller Kritik im Detail zustimmend zu dieser Theorie verhalten.
In den 1970er-Jahren setzt eine Konjunktur theoretischer Texte ein, die mit dem im Anschluss an Talbot entwickelten Realismusverständnis bricht. Aus Sicht von Autoren wie Pierre Bourdieu, Victor Burgin, John Tagg, Allan Sekula, Douglas Crimp, dem frühen Roland Barthes und Rosalind Krauss stellt das "realistische Potenzial der Fotografie [...] keine tatsächliche Eigenschaft fotografischer Bilder dar, sondern erscheint als bloßer Effekt sozialer und kultureller Praktiken, Zuschreibungen und Codes." (70) Geimer stimmt dieser Sichtweise zum Teil zu, sieht es aber als problematisch an, wenn sich die Aufmerksamkeit nicht mehr länger auf das konkrete fotografische Bild richtet, sondern nur noch auf die sozialen Prozesse, Regeln und Diskurse, die es mit Bedeutung aufladen. Deshalb begegnet er etwa der Theorie des Soziologen Bourdieu mit einer gewissen Skepsis. Geimer zufolge liefern solche und ähnliche Studien keine Theorien der Fotografie mehr, sondern Theorien der sozialen und historischen Funktionen, die sich der Fotografie bemächtigen. Neben Krauss scheint ihm Barthes am interessantesten, weil sich bei diesen beiden Autoren Reste einer Theorie des Abdrucks erhalten haben.
Warum das Festhalten am Moment referentieller Durchsichtigkeit so wichtig ist, wird auch in den weiteren Kapiteln deutlich, die der Zeitlichkeit, der Reproduzierbarkeit und der Kunstfähigkeit der Fotografie gewidmet sind. Die Durchlässigkeit des fotografischen Bildes zum Nicht-Codierten hat zu Reflexionen auf die Rolle des Zufalls geführt: Walter Benjamin erläuterte 1931 den Mehrwert der Fotografie bekanntlich als das "optisch Unbewusste". Das optisch Unbewusste ist das, was sich nicht herstellen lässt. Sein Charakteristikum ist die Abwesenheit von Intention. Ähnlich verhält es sich mit Überlegungen von Roland Barthes zum so genannten "punctum". Nach Barthes ist das "punctum" einer Fotografie jenes Zufällige an ihr, das den Betrachter unvermutet trifft. "Das punctum kann ein Detail sein, ein Teil des Abgebildeten, der ohne Zutun des Fotografen mit ins Bild geraten ist und die routinierte Betrachtung in Unruhe versetzt." (134) Auch wenn Geimer in diesem Kapitel noch weitere Ansätze zur Zeitlichkeit vorstellt, so vermisst man hier doch gerade ein Eingehen auf Aspekte einer "cinematografischen" Fotografie, zumal angesichts des Stellenwertes, der Jeff Wall verliehen wird. Wiederum aus den technischen Herstellungsbedingungen des fotografischen Bildes ist die Thematisierung der "Reproduzierbarkeit" in einem eigenen Kapitel zu verstehen. Die massenhafte Vervielfältigung suspendiert die Einmaligkeit des Kunstwerks - es verliert Benjamin zufolge seine Aura, wird aber gleichzeitig freigesetzt aus alten (religiösen) Bindungen: ein emanzipatorisches Ideal, das sich in der technischen Reproduzierbarkeit erfüllt.
Eine besonders deutliche Position bezieht Geimer im letzten Kapitel, das der Fotografie im System der Künste gewidmet ist. So grenzt er sich hier gegen verschiedene Positionen ab, die nicht zu einer positiven Bestimmung der Fotografie als Kunst gelangen. Selbst die frühen Theoretiker einer inszenierten Fotografie, Bazon Brock und A.D. Coleman, entwickeln ihm zufolge noch keinen positiven Begriff der Inszenierung. Erst Jeff Wall hat Texte geschrieben, die sich für eine solche Bestimmung produktiv machen lassen. "Walls Kommentare erlauben es, diese Polarität von Dokumentation und Inszenierung zu durchkreuzen." (206f.)
Im Forschungskontext ist bis heute die vierbändige Theorie der Fotografie, deren erste drei Bände Wolfgang Kemp herausgegeben hat, das Standardwerk. [1] Auf dieser für Fragen der Fototheorie unumgänglichen Anthologie von kommentierten Quellentexten aus der Zeit zwischen 1839 und 1995 beruht Bernd Stieglers 2006 erschienene Theoriegeschichte der Fotografie, die erstmals den Versuch unternimmt, aus der Vielzahl der theoretischen Ansätze zentrale Motive herauszupräparieren. [2] Einen etwas anderen Ansatz verfolgt ein 2007 von James Elkins herausgegebener Reader, der auf Vielstimmigkeit setzt und eine Mischung aus Anthologie, Workshop-Bericht und Studie darstellt. [3] Alle genannten Bücher haben in die Studie von Peter Geimer Eingang gefunden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sein Buch eine Einführung ist, nach deren Lektüre man sich umfassend über die Materie informiert fühlt, ohne von Fachjargon und abgehobenen Argumentationsweisen ermattet zu sein. Im Gegenteil, durch den Rekurs auf die Leitfrage nach dem Verhältnis von Fotografie und Fotografischem entfaltet sich der Text wie von selbst in einem Spannungsfeld, das schwierig zu erfassen ist, aber so anschaulich vermittelt wird, dass es leicht zugänglich erscheint.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Kemp / Hubertus von Amelunxen (Hgg.): Theorie der Fotografie I-IV, 1839-1995, München 2006.
[2] Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006.
[3] James Elkins (ed.): Photography Theory, New York / London 2007.
Jennifer Bleek