Frank Becker / Thomas Großbölting / Armin Owzar / Rudolf Schlögl (Hgg.): Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer, Münster: Aschendorff 2003, X + 352 S., ISBN 978-3-402-06612-6, EUR 64,00
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Die Festschrift zu Hans-Ulrich Thamers 60. Geburtstag ist einem grundlegenden Problemfeld der neuzeitlichen Politikgeschichte und damit einem zentralen Forschungsanliegen des Geehrten verpflichtet: dem spannungsreichen Verhältnis von Gewalt und politischer Herrschaft. In einem kurzen Vorwort stellen die Herausgeber mehrere Dimensionen dieses Verhältnisses vor - von Gewaltentstehung und Gewaltfunktionen über kommunikative Prozesse und Gewalterfahrungen bis hin zu den Konsequenzen der Gewaltausübung für politische Systeme; diesen Dimensionen lassen sich alle 16 Beiträge zuordnen.
Seinen Ausgangspunkt nimmt der Band völlig zu Recht in der Französischen Revolution, die das 19. Jahrhundert, ja die politische Moderne insgesamt, fundamental von der Frühen Neuzeit trennt - allen jüngst betonten Kontinuitäten zum Trotz. Rüdiger Schmidt verfolgt dabei zunächst an den Kulten der Vernunft und des Höchsten Wesens das für den jakobinischen Terror so charakteristische symbolische Ineinander aus metaphysischer Interpretation und religiösem Anstrich. Erst diese Mischung legitimierte den Herrschaftsanspruch der Französischen Revolution und transzendierte zugleich ihre ursprünglich aufgeklärt-rationale Basis. Auch der nachfolgende Essay von Rolf Reichardt gehört in diesen Kontext; er widmet sich dem Kampf der Bilder um die französische Republik und betont den sich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckenden Grundkonsens zwischen radikalen und bürgerlichen Republikanern über eine maßvolle Gewaltausübung als Fundamentalbestandteil republikanischen Regierens.
Die drei folgenden Beiträge konzentrieren sich auf Vormärz und Revolution 1848/49. Zunächst führt Ewald Frie dem Leser die Gewalterfahrungswelt des preußischen Adeligen Friedrich August Ludwig von der Marwitz zwischen napoleonischen Kriegen und vormärzlicher Gutsherrschaft vor Augen. Das massenhafte Gewalt- und Todeserlebnis im Befreiungskrieg ließ ihn offenkundig nach Alternativen suchen, denn bemerkenswerterweise untermauerte Marwitz seinen Herrschaftsanspruch über Land und Leute weniger durch die direkte körperliche Gewalt als vielmehr über rituelle und symbolische Inszenierungen: So übernahm die ganze Gutsgemeinde die Patenschaft für seinen Sohn. Auf breiter archivalischer Quellenbasis widmet sich sodann Bernhard Sicken dem Kölner Kirmestumult von 1846, der für einen Beteiligten tödlich verlief, zwischenzeitig in der Bildung einer bewaffneten Bürgerwehr gipfelte und ein weit über die Rheinprovinz hinaus reichendes publizistisches Echo nach sich zog. Überzeugend dokumentiert Sicken die langfristigen Konsequenzen dieses Vorfalls: den unbedingten Vorrang des preußischen Militärs vor den ohnehin schwachen Polizeikräften. Essayistisch skizziert abschließend Dieter Langewiesche die Revolution 1848/49 als Endpunkt liberaler und demokratischer Überzeugungen, revolutionäre Gewalt als legitimes Krisenmanagement zu betrachten.
Ins Blickfeld der folgenden vier Beiträge geraten Kaiserreich und Weimarer Republik. Zunächst spürt Armin Owzar den Ursprüngen politischer Gewalt und Radikalisierung in der Weimarer Republik nach. Sie macht er in der Art und Weise aus, wie Gruppenkonflikte - am Beispiel von Hamburger Sozialdemokraten und Antisemiten - im späten Kaiserreich ausgetragen wurden. Zwar wird die mangelnde verbale Konfliktregulierung durchaus greifbar, aber dennoch kommt auch Owzar an der Grundtatsache nicht vorbei, dass erst die Erfahrung des Ersten Weltkrieges die bis dahin noch eingehegten ideologischen Leidenschaften endgültig entfesselte. Frank Beckers gelungener Beitrag zeichnet ein vielschichtiges Bild von den Auseinandersetzungen um das untrennbar mit Herrschaftsfragen verwobene Verbot der so genannten Rassenmischehe in Deutsch-Südwestafrika (1905). Die beiden großen Konfessionen und Missionsgesellschaften vor Ort rangen sichtbar um klare Positionen in dieser heiklen Frage. Der ausgewiesene Experte einer Geschichte der Eugenik (und im Autorenverzeichnis leider vergessene) Michael Schwartz fasst die gut durchleuchteten Anfänge jener 'liberalen Eugenik' zusammen, vor der jüngst Jürgen Habermas so eindringlich gewarnt hat. So unterstreicht Schwartz erneut, dass die eugenische Biopolitik keine NS-Erfindung war, sondern seit der Wende zum 20. Jahrhundert zum Grundbestand moderner Demokratien erwuchs und im sozialistischen Arbeiterbewegungsmilieu der Weimarer Republik fest verankert war, etwa bei Karl Kautsky oder Helene Stöcker. Zu guter Letzt verfolgt Peter Hoeres die ideengeschichtlichen Grundlagen deutscher Feindbilder in Großbritannien im Ersten Weltkrieg, auf die auch viele politische Entscheidungsträger jener Jahre zurückgriffen, nicht zuletzt Außenminister Edward Grey.
Mit dem Verhältnis von Herrschaft und Gewalt in der NS-Zeit setzen sich zwei Beiträge auseinander. Franz-Josef Jakobi bietet einen quellennahen Werkstattbericht über das vom Stadtrat geförderte Projekt 'Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Münster während des Zweiten Weltkriegs', wobei er insbesondere den Quellenwert der städtischen Kriegschronik andeutet. Die Grenzen totalitärer Herrschaft erkundet Rolf-Dieter Müller am Beispiel von Liebesbeziehungen zwischen deutschen Soldaten und Frauen im Vernichtungskrieg im Osten. Zahlreiche, sich teilweise widersprechende Verordnungen verschiedener Institutionen dokumentieren nachdrücklich, dass der nationalsozialistischen Ideologie auf dem Feld der Gefühle durchaus Grenzen gesetzt waren.
Die letzten fünf Beiträge führen in die jüngste Geschichte. Anselm Döring-Manteuffel zeichnet den Zusammenhang von Gewalt und etatistisch gedeuteter 'streitbarer Demokratie' in den beiden Gründungsjahrzehnten der Bundesrepublik nach: Danach konnten 'Establishment' und Institutionen nur wenig Verständnis entwickeln für gesellschaftliche Reform- und Partizipationsforderungen, was eine friedliche Konfliktlösung in den Sechzigerjahren nahezu unmöglich werden ließ. Bernd Faulenbach schreitet knapp die verschiedenen Interpretationsphasen des 17. Juni 1953 in Ost und West ab, indem er nach der Verbindung von Legitimations- und Delegitimationsprozessen fragt. Ehe ein kurzer Essay von Hermann Lübbe über öffentliche Präsenz der Gewalt im 20. Jahrhundert den Band beschließt, befassen sich Thomas Großbölting und Franz-Werner Kersting mit dem insgesamt gut erforschten Feld der bundesrepublikanischen Jugendkultur: Von spontanen und oft wenig zielgerichteten Regelverletzungen von 'Halbstarken' und 'Apo-Aktivisten' ließen sich die Ordnungsbehörden vielfach ebenso irritieren wie sie den politisierten westdeutschen Jugendlichen im linksradikalen Spektrum der 1970er-Jahre zumeist vollkommen ratlos gegenüberstanden.
Festschriften sind leider oftmals eine Qual für Herausgeber wie Rezensenten, weil zusammenwachsen soll, was nicht zusammen gehört. Das ist hier glücklicherweise nicht so, denn insgesamt liegt ein gelungener und über weite Strecken anregender Band vor, der das Verhältnis von Gewalt und Herrschaft in der politischen Moderne fassetten- und kenntnisreich ausleuchtet. Man vermisst lediglich den Beitrag des vierten Mitherausgebers, der ohne Zweifel zum Spannungsdreieck Herrschaft - Konfession - Gewalt Wesentliches hätte beisteuern können.
Nils Freytag