Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums / Panik-Kurve. Berlins Cholerajahr 1831/32 / Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt / Das schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung (Seuchen-Cordon I - IV), Berlin: Akademie Verlag 2003, 4 Bde., 1351 S., ISBN 978-3-05-003779-0, EUR 74,80
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Dass große Krankheiten Teil großer Geschichten sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Die spätmittelalterliche Pest in Europa, die mit der kolonialen Expansion einhergehenden Seuchenzüge der frühen Neuzeit in Süd- und Mittelamerika, die Influenza-Pandemie 1918/19 oder die AIDS-Epidemie der Gegenwart sind geläufige Beispiele. Angesichts solcher historischen Großereignisse erweisen sich nicht selten unsere modernen begrifflichen Trennungen in Natur und Kultur, biologisch und sozial als unangemessen und Seuchen als historische Gegenstände, die alle die genannten Dimensionen miteinbeziehen.
Für das Europa des 19. Jahrhunderts kann man in diesem Sinne die wiederkehrenden Choleraepidemien als vielschichtige und bedeutende historische Ereignisse betrachten. Warum genau die vordem im Golf von Bengalen endemische Krankheit sich in eine epidemische Krankheit verwandelte und als solche ab 1830 Europa erreichte, ist schwer zu klären. Klar ist aber, dass die Seuche wie keine andere die Fantasie ihrer Zeitgenossen beschäftigte, Berge medizinischer und hygienischer Fachliteratur provozierte und, wie Thomas Nipperdey bemerkte, als große Peitsche die Gesundheitspolitik und -verwaltung zur Aktivität antrieb. Dies alles verdankte sie weniger den absoluten Sterblichkeitsziffern, die zum Beispiel weit hinter denen der Tuberkulose zurückblieben. Dennoch wurde die Cholera als weitaus bedrohlicher angesehen. Wichtig dafür waren die schnelle Verbreitung der Seuche im Raum, das plötzliche Auftreten heftigster, entwürdigender Symptome beim einzelnen Kranken, die hohe Sterblichkeit von fast 50% der Erkrankten und das Versagen traditioneller Methoden der Seuchenbekämpfung wie der Cordon sanitaire: In der Cholera erblickte die fortschrittsgläubige industrielle Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihr zweites Gesicht des Zusammenbruchs der eben erst erstandenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Ordnung.
Der Berliner Kulturwissenschaftler Olaf Briese hat nun den vielfältigen Fassetten des historischen Großereignisses in seiner jüngst veröffentlichten Habilitationsschrift "Angst in den Zeiten der Cholera" nachgespürt. Der Umfang des Werkes, das mit nicht weniger als vier Bänden in einem festen Schuber daher kommt, ist für den Rezensenten zunächst ein wenig erschreckend. Allerdings sind drei der Bände thematische Quelleneditionen, die ausschließlich die Epidemie der Jahre 1831/32 in Deutschland betreffen. Deren erster, "Panik-Kurve. Berlins Cholerajahr 1831/32", dokumentiert die verschiedenen Phasen der öffentlichen Wahrnehmung und Erregung, die mit dem Seuchenausbruch einhergingen. Der Zweite Band, "Auf Leben und Tod. Briefwelt als Gegenwelt", stellt dem die private Aneignung und Bewältigung durch die Zeitgenossen im ganzen deutschen Sprachgebiet entgegen. Der dritte Band, "Das schlechte Gedicht. Strategien literarischer Immunisierung", enthält schließlich eine vergnügliche Sammlung von Gebrauchslyrik, in der allenthalben das Bemühen der Verfasser erkennbar wird, den Schrecken ihrer Gegenwart eine nicht nur sprachliche Ordnung aufzudrücken. Alle drei Bücher sind wahre Fundgruben origineller Quellen und bringen dem Leser die Geschichte der Epidemie von 1831/32 in einer Weise nahe, die ihresgleichen sucht.
Den Mittelpunkt des gesamten Unternehmens bildet der erste Band, "Über die kulturellen Ursprünge des Bakteriums". Hier entwirft Briese zunächst ein Panorama der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Cholera-Epidemien der Jahre 1831/32. Er zeigt, wie in den Reaktionen von Wissenschaft, Öffentlichkeit, Verwaltung und Militär die Cholera allmählich auf ihren Begriff gebracht wurde und wie sich aus einer verheerenden, ansteckenden Krankheit die paradigmatische Seuche der Epoche entwickelte. Die Beschreibung der auf sie bezogenen Vorstellungen und Praktiken liefert dann ein Panorama der Ängste des Zeitalters sowie der zu ihrer Bewältigung entwickelten Strategien.
Besonderes Augenmerk schenkt der Autor den wissenschaftlichen Vorstellungen. Er zeigt, wie der Seuchenzug der Jahre 1831/32 zu einer letzten krisenhaften Blüte vormoderner, sprich miasmatischer Erklärungsmodelle über krankmachende Orte, Klimata und Ähnliches führt, während die kontagionistischen, also die mit der Existenz krankheitsübertragender Materie argumentierenden Erklärungsmodelle, eher ins Hintertreffen gerieten. Während nun in der Medizingeschichte die im Verlauf des Jahrhunderts folgende Entwicklung der bakteriologischen Hygiene traditionell als Sieg der Kontagionisten gedeutet wird - eine Interpretation, die sich etwa noch in Richard Evans Buch "Tod in Hamburg" findet, formuliert Briese die These, dass die bakteriologische Erklärung eher als Synthese beider Ansätze aufzufassen ist. Die Idee des krankheitserregenden Bakteriums nahm, so Briese, die naturhaften und sozialen Aspekte der Seuchenverbreitung in sich auf und formulierte sie auf eine Weise, die dann ebenso gut als wissenschaftlicher Begriff wie als populäre Vorstellung figurierte. Die wissenschaftliche Entschlüsselung der Seuchen lieferte zugleich eine Antwort auf die soziale Frage des Zeitalters und die zunehmende Abstraktheit der Lebensverhältnisse in industriellen Gesellschaften. Diese nahm die Form eines Feindbildes an, eben des krankmachenden Bakteriums - von daher erklärt sich der Titel von Brieses Buch. [1]
Brieses Studie beruht auf umfangreichem Material. Dieses wird inhaltlich souverän und sprachlich stilsicher gehandhabt; die Thesen des Autors sind anschaulich formuliert. Dennoch sind eine Reihe von Fragen zu stellen, die vor allem die gewählte Begrenzung des Themas und die Beziehung zur Forschungsliteratur betreffen. So ist es zumindest einer Rechtfertigung bedürftig, eine Untersuchung über die Seuche des 19. Jahrhunderts schlechthin auf den deutschen Sprachraum zu begrenzen. Die innige Beziehung von Cholera und Revolution, die sich nach der Julirevolution von 1830 in Frankreich ausbildete, bleibt in Brieses Studie blass. Die gesellschaftliche Antwort, die das britische 'sanitary movement' Mitte des Jahrhunderts auf die Seuche formulierte, bleibt unerwähnt. Beides aber wurde auch in Deutschland intensiv rezipiert, und Brieses Bild der Cholera hat somit gehörige Lücken. Auch wird nicht recht deutlich, wo sich der Autor in der Historiographie von Hygiene und Cholera positioniert. So drängt sich etwa die Frage auf, in welcher Beziehung Brieses recht allgemein formulierte These über den verschiedene Wissenskulturen synthetisierenden Begriff des Bakteriums zu Bruno Latours älterer Analyse der Pasteurschen Hygiene als wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bewegung steht. Ein solcher Vergleich fehlt im Text, hätte aber sicher geholfen, die Thesen der Darstellung zu schärfen.
Nicht unproblematisch ist schließlich die starke Ausrichtung der Argumentation auf die Bakteriologie Robert Kochs, zu der sich viel Interessantes im Text findet. Unabhängig davon, ob die bakteriologische Hygiene nun die Ängste des Zeitalter auf den Begriff brachte, erscheint es notwendig, zwischen der Person Kochs und der Disziplin stärker zu trennen, als Briese das tut. Die Folgen dieser Unterlassung sind vielfältig. Zunächst wird damit eine Vorstellung der Kohärenz einer Wissenschaft perpetuiert, die nicht mehr dem Stand wissenschaftshistorischer Methodik entspricht. Des Weiteren gewinnt, indem zwischen Koch und der bakteriologischen Hygiene kaum getrennt wird, die Person des Wissenschaftlers monumentale Züge. Das ist nicht nur biografisch unglaubwürdig, sondern erzeugt auch ein übermäßig harmonisches Bild der bakteriologischen Hygiene, in dem Kritiker, Konkurrenten usw. kaum Beachtung finden.
Zu bemerken ist schließlich, dass bei allem Reichtum der Quellen diese den Gegenstandsbereich der Darstellung sehr ungleichmäßig abdecken. Ihren Schwerpunkt hatte die Recherche Brieses offenkundig in der ersten Epidemie von 1831/32. Die kaum weniger verheerende Epidemie des Jahres 1866 etwa findet kaum Beachtung, und die Quellenbasis für das späte 19. Jahrhundert ist vergleichsweise dünn.
Brieses Werk bleibt dennoch, dass muss betont werden, eine wahre Fundgrube an historischer Information, die vor allem viele überraschende und originelle Quellen bereithält. Dass es sich um eine lohnende Lektüre handelt, ist noch stark untertrieben.
Anmerkung:
[1] Ob der Titel in irgendeiner Weise auf Gabriel García Márquez' Roman "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" anspielen soll, ist der Darstellung Brieses nicht zu entnehmen.
Christoph Gradmann