Tobias Weidner: Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert (= Historische Politikforschung; Bd. 20), Frankfurt/M.: Campus 2012, 447 S., ISBN 978-3-593-39746-7, EUR 49,90
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Das Verhältnis von Medizin und Politik im langen 19. Jahrhundert gehört zu den klassischen Themen, in denen sich Medizin- und Allgemeingeschichte begegnen. Geprägt ist es durch Arbeiten aus den jeweiligen Fächern, man denke an Ute Frevert, Gert Göckenjahn, Alfons Labisch oder Paul Weindling. Bei allen Unterschieden im Detail ist den genannten Autoren eine Perspektive gemeinsam, die für die Epoche von den Napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg eine Verbindung ärztlicher Professionalisierung mit Verstaatlichung und Sozialdisziplinierung im weiteren Sinne als Leitlinie der Entwicklung annimmt. Gemeinsam ist den genannten Autoren zudem, dass ihre im diesem Sinne relevanten Werke älteren Datum sind, sie entstammen zumeist den 1980er Jahren. Seitdem ist es eher ruhig geblieben auf diesem Felde. Tobias Weidners Buch "Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert" bringt also neues Leben in dieses Forschungsfeld. Es zeichnet sich auch durch einen veränderten Zugriff auf den Gegenstand aus. Anstatt der Politik des ärztlichen Standes stellt er eine Untersuchung der historischen Semantik des Sprechens - oder Schweigens - der Ärzte über Politik in das Zentrum seiner Untersuchung. Die aus dem Bielefelder SFB "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" hervorgegangene Arbeit knüpft in diesem Sinne an vergleichbare Arbeiten Reinhart Kosellecks oder Rolf Reichhardts an.
Beschrieben wird ein eher durch Kontinuität als durch Brüche geprägtes Sprachverhalten, das sich um zwei im Grunde widersprechende Vorstellungen gruppiert: Der einer ärztlich-wissenschaftlichen Distanz zur (Partei)Politik einerseits und einer mit der Zeit immer wichtiger werdenden Selbstbeschreibung der Wissenschaft als Maßstab der Politik bis hin zu szientokratischen Auffassungen anderseits. Die Phasen, in denen sich diese Semantik entwickelte, korrespondieren, wenig überraschend, mit der politischen Geschichte des Zeitalters. Die knappe erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist demgemäß eine Phase des Übergangs, in der die älteren Begriffe wie der des Medicus Politicus ihre Bedeutung verlieren. Gleichzeitig ist das Politische hier recht unbestimmt und lässt sich mit einer ganzen Reihe allerdings zumeist störender Einflüsse auf das ärztliche Handeln - von staatlichem Handeln bis zu Emotionen - assoziieren. Die revolutionäre Lage um 1848 und der inzwischen eingetretene Professionalisierungsschub resultiert dann in einer intensiven Wahrnehmung der Politik seitens der Ärzte. Dabei blieb das berühmte Virchow'sche Diktum der Politik als Medizin im Großen eine Minderheitenposition. Stattdessen kam es zur Ausprägung der oben paraphrasierten doppelgleisigen Argumentation, die Politik einerseits als störende Einmischung in die ärztlich-wissenschaftliche Sphäre ansah und den Ärzten nahelegte, sich der Politik zu enthalten, zugleich aber beanspruchen konnte, der (Partei)Politik Maßstäbe zu setzen. Für den Szientismus der Neuen Ära ist dieses Denken in groben Zügen vor längerem etwa von Timothy Lenoir skizziert worden. Tobias Weidners Verdienst ist es, detailreich und überzeugend seine Ausprägung bis in die Reichgründungszeit zu beschreiben. Dabei gelingt ihm, um ein Beispiel zu geben, etwa eine erhellend zu lesende Passage über die schon von Göckenjahn beschriebene unpolitische Vernunft der Bakterien. Die in ihrem Gestus höchst unpolitischen Bakteriologen vom Schlage eines Robert Koch betrieben solcherart eine durchaus politische Delegitimierung des Sozialen: "in den Texten der Bakteriologen wurde das Politikvokabular umfassend vermieden und, korrespondierend damit, das Soziale aus der Ätiologie systematisch getilgt. Die 'unpolitische Vernunft' der Bakterien war damit Kern einer Relevanzstrategie" (249).
Bei grundlegender Konstanz der Argumentationsmuster verstärkte sich der szientiokratische Zug der Semantik ab 1890 bis in die Frühphase der Weimarer Republik. Die lange sorgsam gepflegte semantische Inkompatibilität von Medizin und Politik verlor nun zunehmend an Bedeutung und ermöglichte so eine ganze Reihe von charakteristischen sprachlichen Neuschöpfungen von denen Gesundheitspolitik und Rassenhygiene vielleicht die bekanntesten sind. Zwei semantische Felder wurden dabei besonders prägend für die unpolitische Politik der medizinischen Profession in diesem Jahrzehnten: Zum einen griffen die Sozialhygieniker das Virchow'sche Diktum von 1848 auf und betrieben eine Medikalisierung der Sozialpolitik. Hatte Virchows Diktum 1848 für eine extreme Außenseiterposition gestanden, so wurde dieser Ansatz nun prägend in der Sozialpolitik Alfred Grotjahns und anderer Mediziner. Zum anderen beförderten die Rassenhygieniker seit dem späten 19. Jahrhundert eine gegenseitige Durchdringung politischer und biologischer Begriffe, die ihre volle Wirkung erst im Nationalsozialismus entfalten sollte.
Was das Verhältnis zur Medizingeschichte betrifft, so macht Weidners Arbeit klare Anleihen bei der mehr politischen Medizingeschichte der Epoche, wie sie etwa Paul Weindling geschrieben hat. Demgegenüber bleiben die Bezüge zu mehr wissenschaftsgeschichtlich inspirierten Forschung blass. Sylvia Bergers Buch "Bakterien in Krieg und Frieden" etwa scheint dem Verfasser entgangen zu sein. Dennoch liefert Weidners Buch einen hoch interessanten und sehr lesenswerten Beitrag zur historischen Semantik medizinischer Professionalisierungsstrategien im Rahmen der modernen Deutschen Geschichte. Umfang und Wirkmächtigkeit semantischer Felder sind sehr gut herausgearbeitet und als besonders erhellend erschien dem Verfasser dieser Zeilen der deutlich werdende Beitrag der Medizin zur sich herausbildenden Wissensgesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Lektüre sei es nachdrücklich empfohlen.
Christoph Gradmann