Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hgg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2002, 448 S., 1 Grafik, ISBN 978-3-593-37048-4, EUR 58,00
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Schon lange vor den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass manche Entwicklungen nicht bloß einzelne Länder oder Regionen betreffen, sondern durchaus globale Bedeutung beanspruchen dürfen, auch wenn dieser Erkenntnis nicht immer entsprechende Taten gefolgt sind (und global zumeist mit 'westlich' verwechselt wird). Dies gilt nicht allein für die große Politik, sondern auch für die Forschung insbesondere in den Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, die sich noch immer allzu oft mit einem engen nationalen Rahmen begnügt. Insofern ist eine Publikation wie der hier anzuzeigende Sammelband besonders zu begrüßen, der ausgetretene Pfade verlassen will und zweifellos verschiedenen Forschungsbereichen wertvolle Anstöße zu geben vermag. Denn indem er sich der den nationalen Rahmen transzendierenden Ebene zuwendet, gelingt es ihm, sich "von der starken Fokussierung auf Territorialität und damit vom Modell einer homogenen, territorial verankerten Gesamtgesellschaft zu lösen und stärker auf Bewegungen zwischen Gesellschaften und damit auf 'Ströme' (flows) und 'Netzwerke' (networks)" zu konzentrieren (10). Dabei definieren die Herausgeber "diejenigen Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen und Staaten [als transnational], die über Grenzen hinweg agieren und dabei gewisse über den Nationalstaat hinausgehende Strukturmuster ausbilden" (9). Im Gegensatz hierzu würde der Terminus 'international' die Akteure implizit auf souveräne Staaten reduzieren, der Terminus 'global' andererseits keine regionalen Beschränkungen zulassen und automatisch einen weltumspannenden Anspruch erheben.
Analysiert wird diese Ebene des Transnationalen nun mittels zweier Begriffe, die sich zwar schon seit geraumer Zeit großer Beliebtheit nicht bloß in der Forschung erfreuen, deren Gebrauch aber auch heftig umstritten ist: Öffentlichkeit und Identität. Die ausführliche Einleitung der Herausgeber bietet zu beiden jeweils eine gute Zusammenfassung jener Forschungsansätze, die diese Begriffe für die empirische Forschung operationalisierbar machen. Dies heißt für kollektive Identitäten, dass es sich bei ihnen um situativ bedingte und historisch wandelbare Konstruktionen von Zugehörigkeitsvorstellungen handelt, die letztlich nur im Plural sinnvoll zu begreifen sind. Dieser pluralische Charakter eignet auch dem dem Band zugrunde liegenden Verständnis von Öffentlichkeit, bei welcher die Formen von Encounter-, Versammlungs- und Medienöffentlichkeit zu unterscheiden sind.
Im Folgenden gliedert sich der Band in eher allgemein gehaltene (und bisweilen etwas oberflächlich geratene) Betrachtungen des 'Spannungsfeldes' "Nation, Europa und Welt" (35) sowie neun anregende Fallstudien, die hier leider nicht gebührend ausführlich besprochen werden können. Der heimliche Bezugspunkt nicht weniger dieser Aufsätze ist dabei 'Europa', was angesichts der sich entwickelnden politischen Einigung des Kontinents wohl kaum wundernimmt und sich durchaus anbietet. Dies wird allenfalls dann zum analytischen Problem, wenn Unterscheidungen vorgenommen werden wie die zwischen "der" europäischen Identität (als etwas uneingeschränkt Positivem) auf der einen und den nationalen 'Verdrängungsidentitäten' auf der anderen Seite (88f.). Hier ist der Rubikon zwischen Analyse und bloßer Identitätspolitik wohl schon überschritten. Hingegen trifft Martin Kohli in seinem reflektierten Beitrag über Konflikte und Potenziale europäischer Identität den Punkt, wenn er fragt, ob Europa derlei überhaupt benötige.
Mit Ausnahme der Untersuchungen von Matthias Bös über die Staatsangehörigkeitsdebatte in Deutschland und von Dominic Sachsenmaier über die chinesische Diaspora spielen Fragen der Identitätsbildung allerdings für die Fallstudien kaum eine Rolle. Ihr Interesse richtet sich im Wesentlichen auf die Rolle von Öffentlichkeit bei der Entwicklung und Etablierung der Neuen Sozialen Bewegungen auf transnationaler Ebene. Untersucht werden die Bewegungen, die sich der Frauenemanzipation gewidmet haben (Susan Zimmermann), die 1968er (Ingrid Gilcher-Holtey), Ökologie- und Friedensgruppen (Dieter Rucht) sowie die Menschenrechtsbewegungen (Hans Peter Schmitz); hinzu kommen noch Non-Gouvernmental-Organisations (Thomas Fetzer) sowie die besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren erfolgreiche Zukunftsforschung (Alexander Schmidt-Gernig).
Bedauerlich ist nur, dass sich letztlich kaum eine der Fallstudien tatsächlich mit den Wechselwirkungen zwischen den beiden Analyse-Konzepten zur Transnationalität auseinandersetzt, allzu oft bleibt es bei bloßen Lippenbekenntnissen, dass transnationale Öffentlichkeiten auf die Ausbildung ebensolcher Identitäten gewirkt hätten oder aber (dies vermehrt), dass es keine solche Interaktion gegeben habe. Diese Aussparung schränkt die konzeptionelle Überzeugungskraft des Bandes als Ganzes durchaus ein. Verstärkt noch durch das offenkundig fehlende Endlektorat seitens des Verlags ist der dadurch ein wenig unbefriedigende Gesamteindruck umso bedauerlicher, da die empirisch angelegten Studien für sich genommen vollauf zu überzeugen wissen.
Marcus Pyka