Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2007, 437 S., 12 Diagramme, 10 Tab., ISBN 978-3-406-54984-7, EUR 34,90
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Kaelbles Sozialgeschichte der europäischen Nachkriegszeit führt Bibliotheken einzelthematischer Studien in einer großangelegten Synthese zusammen. Der europäische Weg ist im globalen Maßstab einer unter vielen; gemessen an "Außer-Europa" ist er aber doch ein ganz eigener. "Europäizität" ist keine ahistorische Essenz aus dem platonischen Ideenhimmel. Sie bildet sich fortlaufend aufs Neue, auf der Grundlage der alle Diversität überwölbenden Familienähnlichkeiten. Die innereuropäischen Unterschiede sind, mit anderen Worten, geringer als die zwischen Europa und "Nicht-Europa". Europa ist nicht lediglich ein Diskurs, ein Geflecht sozial konstruierter Zuschreibungen, sondern ein handgreifliches Ensemble wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Die Frage nach "Europa" wird hier also nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie down to earth sozialökonomisch durchdekliniert. Kaelbles Konzept ist flexibel und diskursiv offen - etwa hinsichtlich der Grundsatzentscheidung, die Türkei und Russland beziehungsweise die Sowjetunion als in vielerlei Hinsicht andersartige politische Mächte und Kulturphänomene nicht in die Darstellung aufzunehmen.
Diese reicht thematisch über die klassische politische Sozialgeschichte weit in die kulturhistorisch erweiterte Gesellschaftsgeschichte hinein; jenseits der sozialen Physiognomien von Klassen, Schichten und Gruppen kommen die gesellschaftlich-kulturell geformten Lebenslagen und -welten, Denk- und Lebensweisen umfassend in den Blick: Familie und Arbeit, Konsum und Lebensstandard, Wertewandel und Säkularisierung, die Geschlechter, soziale Ungleichheit; Mobilität und Migration, Öffentlichkeit und Medien, soziale Bewegungen und Konflikte; Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsstaat, Stadt und Bildung. Die Anfangszäsur "1945" ist solide begründet und gegen konkurrierende Formate wie das "kurze 20. Jahrhundert" abgesetzt: Die Bedeutung der Umkehr von austerity, Diktatur und exzessiver Gewalt hin zu calme, luxe et volupté im Rahmen von Demokratie und supranationaler Integration ist im 20. Jahrhundert nicht zu überbieten. Gilt dies bis 1989 auch nur für die westliche Hälfte des europäischen Doppelhauses, so wird doch bereits in der frühen zweiten Nachkriegszeit der Pfad begründet, auf den nach dem Ende des Staatssozialismus auch Ostmittel- und Südosteuropa einschwenken. Nicht zuletzt wird die Bedeutung der Zäsur von 1989 durch die markanten sozialökonomisch-kulturellen Wandlungsprozesse im Zeichen von Postmodernisierung, Globalisierung und dritter industrieller Revolution ab etwa den frühen siebziger Jahre relativiert. Diese Entwicklungen, die Europa links und rechts vom Eisernen Vorhang gleichermaßen tangieren, zeichnet Kaelble auf sämtlichen in diesem Buch behandelten thematischen Feldern mit starkem Stift nach.
Innerhalb der Großkapitel wird diszipliniert ein einheitliches Gliederungsschema abgearbeitet: Der Bogen spannt sich von den jeweiligen "Haupttendenzen" hinüber zur Frage einer allfälligen Sonderstellung Europas im globalen Rahmen. Konsequent durchgehalten ist der komparative Blick; der Autor konstatiert dabei, unter dem Einfluss sich verdichtender transnationaler Beziehungen, unübersehbare langfristige Konvergenzen der europäischen Nachkriegsgesellschaften. Für die Ära des Kalten Krieges war in erster Linie der Ost-West-Vergleich geboten. Passagenweise und nach Maßgabe des Gegenstands kommen weitere großregionale Unterschiede, etwa die zwischen "West" und "Süd", zur Sprache. Kaelble teilt das kanonisierte Wissen mit; markiert werden aber auch die weißen Flecken. Auf hohem Abstraktionsniveau, im Zugriff auf die großen Bögen und die langen Linien geht manches Detail verloren. Das lässt sich wohl nicht vermeiden, will man vor lauter Bäumen den Wald nicht übersehen. Erstaunlich ist eher, wie viel Subtiles in der energischen Zusammenschau eben doch untergebracht werden kann. Die Literaturverweise sind aufs Wesentliche konzentriert, die Sprache ist glasklar, insbesondere wird der sozialwissenschaftliche Fachjargon aufs unbedingt Notwendige reduziert.
Kleinkarierte Beckmessereien sind bei einem solchen Format nicht angebracht; ich schließe deshalb mit einigen grundsätzlichen Anmerkungen. Erster Punkt: Die Darstellung reiht Sach-Tableaus aneinander. Ist dies auch der Ordnung des Diskurses förderlich, so geraten damit doch die überwölbenden und integrierenden Ordnungsparadigmen - der demokratisch-keynesianisch-neokorporatistische Wohlfahrtsstaat "des Westens" und der Staatssozialismus "des Ostens" - aufs Ganze zu weit in den Hintergrund. Zum zweiten: Sozialer Wandel wird, auf den einzelnen thematischen Feldern, reich facettiert beschrieben. Sozusagen eine Etage höher könnte über die großen Kräfte der Veränderung noch intensiver nachgedacht werden. Drittens: Die ehernen Gehäuse von Politik und Wirtschaft, die harten Interessenkonflikte und die kaltschnäuzige Macht - all das wirkt manchmal zu kulturalistisch weichgespült. Viertens: Lässt sich die dichotomische Vergleichsperspektive weiter ausdifferenzieren? Gibt es ein südeuropäisches Modell? Einen skandinavischen Pfad? Fünftens: Wie ordnet sich die zweite Jahrhunderthälfte in weiterreichende zeitliche und räumliche Kontexte ein? Zum Abschluss: Die Geschichte des Rechts als soziale Tatsache; die Geschichte der Kunst als soziale Tatsache; die Geschichte der Sprache als soziale Tatsache; mailen und twittern als soziale Tatsachen: Die Leser wollen alles, und zwar jetzt. Wenn es aber doch nicht geht, soll das der Wunschzettel für die weiteren Auflagen sein, die man diesem brillanten Buch wünscht.
Christoph Boyer