Rita Aldenhoff-Hübinger: Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 155), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 257 S., 14 Tab., 2 Abb., ISBN 978-3-525-35136-9, EUR 28,00
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Agrargeschichte steckt grundsätzlich in einem Dilemma: Will sie dem Anspruch gerecht werden, differenziert zu arbeiten und unterschiedliche Landschafts- und Sozialstrukturen zu berücksichtigen, muss sie ihr Untersuchungsfeld begrenzen - und läuft damit oft Gefahr, bloße Landesgeschichtsforschung zu betreiben, deren Erkenntnisse von einem allgemeineren Forschungsblickwinkel allzu leicht übersehen werden.
Es ist daher umso erfrischender, wenn statt einer pauschalisierenden Global- oder einer vereinzelnden Regionalperspektive eine vergleichende Perspektive gewählt wird, wie es Rita Aldenhoff-Hübinger in ihrer Habilitationsschrift tut. Sie untersucht darin für den Zeitraum von 1879 bis 1914 - der Hochphase des Wirtschaftsprotektionismus in Europa - die Zusammenhänge von Agrarwirtschaft und Politik in Frankreich und Deutschland. Überzeugend ist die Entscheidung für gerade diese Vergleichsobjekte nicht nur aufgrund der Tatsache, dass beide die Schwergewichte in der europäischen Wirtschaftspolitik darstellten. Vor allem die Einsicht, dass hier zwei offensichtlich so unterschiedliche Staaten wie das Kaiserreich und die Dritte Republik gleichzeitig zu den selben Mitteln von Handelsprotektion und -subvention griffen, macht es reizvoll, den jeweiligen Motivationen auf den Grund zu gehen, sie einander gegenüberzustellen und dabei möglicherweise auch vermeintliche Kausalitäten aufzudecken.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Zu Beginn zeichnet eine knappe Übersicht den Vorstoß der nordamerikanischen Landwirtschaft auf den internationalen Agrarmarkt nach, der sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vollzog. Vor die Komparation stellt Aldenhoff-Hübinger dann die Frage nach der Kooperation. Ausgehend davon, dass die amerikanische Handelsoffensive eine Herausforderung darstellte, der sich kaum eine europäische Nationalökonomie entziehen konnte, geht sie Spuren nach, die auf ein Staaten übergreifendes, gemeinsames Reagieren Europas hindeuten.
Zumindest teilweise fündig wird sie bei den "Internationalen Landwirtschaftskongressen", die von 1889 bis 1913 mehr oder minder regelmäßig tagten und den Wirtschaftspolitikern und Agrarlobbyisten Europas ein gemeinsames Forum boten. Auch wenn die Kooperationsbereitschaft und der Einfluss dieser Kongresse nicht so weit reichten, dass es zu einem wirtschaftlich relevanten gemeinschaftlichen Handeln gekommen wäre, so erwiesen sich die Tagungen doch als nicht zu unterschätzende "Orte produktiver Zusammenarbeit und Annäherung über die Grenzen hinweg" (70). Dieser Zugang klärt nicht nur über die bisher in der Forschung eher vernachlässigte Kongresspolitik der Landwirtschaft auf, sondern zeigt auch, dass die Entscheidung für einen nationalistisch ausgerichteten Protektionismus keineswegs eine alternativlose Zwangsläufigkeit war.
Dem eigentlichen Vergleich widmen sich sodann die drei folgenden Kapitel der Arbeit. Hier werden die jeweiligen Rahmenbedingungen in Deutschland und Frankreich hinsichtlich der durchschnittlichen Betriebsgrößen, der Sozialstruktur und der agrarischen Interessenpolitik analysiert. Bei allen Unterschieden zwischen den beiden Staaten vergisst Aldenhoff-Hübinger nicht, auf jeweils interne Differenzen hinzuweisen. Auch die französische "democratie rurale" kannte eine einflussreiche adelige, antirepublikanische Grundbesitzerschicht, und im junkerdominierten Kaiserreich stellten die kleineren und mittleren Landwirte zumindest zahlenmäßig die Mehrheit.
Augenfällige Ähnlichkeiten zeigt Aldenhoff-Hübinger bei der Organisation der jeweiligen Agrarverbände auf. Die Darstellung der Entwicklung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen in einem gesamteuropäischen Kontext wirft vor allem auf die Situation im Kaiserreich ein neues Licht: Ausgerechnet der einflussreichste deutsche Agrarverband, der "Bund der Landwirte", der als die singuläre Verkörperung nationalistischer, junkerorientierter Agrarpolitik gilt, orientierte sich am französischen Vorbild. In seinem Aufbau und den als modern empfundenen Agitationsmethoden ahmte er die Strategien der konservativen "Societée des agriculteurs" nach.
Ein gravierender Unterschied aber bestand in der Bedeutung, welche die Schutzzollforderungen für das jeweilige politische Klima besaßen. Im Deutschen Kaiserreich wurden sie ausschließlich von rechtskonservativer Seite verfochten und als Mittel obrigkeitsstaatlicher Finanzpolitik eingesetzt. Auf parlamentarischer Ebene konnte sich das politische Spaltungspotenzial des Agrarprotektionismus damit voll entfalten. In Frankreich dagegen war die Schutzzollpolitik weder ausschließlich konservativ noch adelig besetzt. Indem sich auch die gemäßigten Liberalen für eine protektionistische Agrarpolitik einsetzten, verfolgten sie die Strategie einer Republikanisierung der ländlichen Bevölkerungsschichten, die bei den Wahlen zur Deputiertenkammer 1889 schließlich in einen Sieg für die Republikaner mündete.
Die Arbeit von Aldenhoff-Hübinger zeigt, wie unterschiedlich, mitunter aber auch ähnlich sowohl die Voraussetzungen als auch die innenpolitischen Funktionen für ein und dasselbe politische Instrumentarium, eine hochprotektionistische Zollpolitik, in Deutschland und Frankreich waren. Dies ist die eindeutige Stärke der Studie, die durch ihre grenzübergreifende Sichtweise dazu beiträgt, allzu stereotype Bilder von nationalen Alleingängen oder Sonderentwicklungen aufzuweichen. Das wäre allerdings noch besser gelungen, hätte man an mancher Stelle mehr Ausführlichkeit zugelassen. Dies gilt weniger für das statistische Material, das in 14 in den Text eingestreuten Tabellen zu Vieh- und Fleischzöllen, Betriebsgrößen und Preisentwicklungen in ausreichendem Maß präsentiert wird. Die Abschnitte aber, die sich mit den traditionellen Leitbildern und Mentalitäten der Landbevölkerung wie der professionellen Interessenvertreter befassen, hätten plastischer und eindringlicher gestaltet werden können. Dabei hätte es schon geholfen, die mehrfach in die Fußnoten verbannten Quellenzitate in den Haupttext zu ziehen. Bei einem Gesamtumfang von 257 Seiten inklusive Anhang hätte dies kaum zu einer unnötigen Aufblähung geführt.
Stefanie Harrecker