Silke Sobieraj: Die nationale Politik des Bundes der Landwirte in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung zwischen Tschechen und Deutschen (1918-1929) (= Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 12), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 367 S., ISBN 978-3-631-38847-1, EUR 50,10
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Nachdem mit der Epochenwende von 1989/90 die tschechischen Archive uneingeschränkt zugänglich geworden sind, stehen die Ergebnisse der älteren bohemistischen Forschung auf dem Prüfstand. In diesem Kontext steht auch die Arbeit von Silke Sobieraj, eine Baseler Dissertation, die sich mit dem Bund der Landwirte (BdL) befasst, einer jener deutschen Parteien, die in den Zwanzigerjahren auf einen Ausgleich mit den tschechischen Parteien bedacht war. Die Politik des so genannten deutschen "Aktivismus" und sein Scheitern in den Dreißigerjahren stellt einen Markstein in der Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik dar. Zudem setzt sich Sobieraj - mehr implizit als explizit - mit den 1979 und 1982 erschienenen Studien von Norbert Linz auseinander, der sich ebenfalls intensiv mit dem Bund der Landwirte beschäftigt hat.[1]
Im Unterschied zu Linz, dessen Fokus vor allem den Strukturen des Bundes der Landwirte galt, rückt Sobieraj das politische Handeln der Partei ins Zentrum. Sie fragt nach den Motiven und Folgen des sudetendeutschen Aktivismus und damit letztlich auch nach den Gründen dafür, "daß die Entwicklung hin zum Münchener Abkommen ihren Verlauf nehmen konnte" (6). Anders als Linz kann Sobieraj aus einer Vielzahl von Quellen schöpfen. Die wichtigsten stellen das Schriftgut der Partei sowie die Protokolle des Budgetausschusses der Nationalversammlung dar; dieser Ausschuss war "ein zentrales Forum, um die Diskussion über die nationalen Verhältnisse in der ČSR in einem nicht unmittelbar öffentlichen Raum [...] sachlich zu führen" (19).
Die Studie ist chronologisch aufgebaut und in drei Teile gegliedert. Der erste behandelt knapp die Jahre von 1918 bis 1920, in denen - ohne Mitwirkung deutscher Vertreter - die Fundamente des neuen Staates gelegt wurden und in die auch die Anfänge des Bundes der Landwirte fallen. Die zweite Phase, die von der Parlamentswahl 1920 bis zur Bildung der ersten tschechisch-deutschen Regierungskoalition 1926 reicht, war durch nationale Konfrontation geprägt: In verschiedenen Koalitionen standen die tschechischen Parteien ihren deutschen Pendants, die sich im "Deutschen Parlamentarischen Verband" zusammengeschlossen hatten, gegenüber. Der Bund der Landwirte war dabei diejenige Kraft, die bereits sehr frühzeitig auf einen Ausgleich mit der tschechischen Politik hinsteuerte und schließlich zum "Vorreiter des Aktivismus" avancierte (85).
Der dritte Teil der Arbeit beginnt mit dem Eintritt des Bundes der Landwirte und der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei in die Regierung und endet mit der Parlamentswahl von 1929, die einen Linksrutsch brachte und zum Eintritt der deutschen Sozialdemokratie in die Regierung führte. In dieser ersten Phase des Aktivismus konnten die deutschen Regierungsmitglieder allerdings nur geringe Erfolge in der Nationalitätenpolitik verbuchen, wie Sobieraj anhand der Verwaltungsreform von 1927 darlegt. Ein knapper Ausblick gilt den Dreißigerjahren, in denen sich die Politik des Bundes der Landwirte im Zuge eines innerparteilichen Generationswechsels radikalisierte. Dieser Prozess kulminierte im März 1938 im Austritt des Bundes der Landwirte aus der Regierung und im geschlossenen Übertritt zur Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henleins.
Den versierten Leser historiografischer Literatur wird manches an dieser Studie befremden - etwa die teilweise ungewöhnlichen Abkürzungen oder der Bericht über die Quellenlage (17-20), der streckenweise einem Selbsterfahrungsbericht über die Benutzung von Archiven und ungedruckter Quellen gleichkommt. Wesentlich sind jedoch zwei zentrale Einwände, denen die Studie begegnet:
Der erste betrifft die Materialbasis. Die einschlägigen Periodika hat Sobieraj nur am Rande berücksichtigt. Eine intensivere Auswertung der "Deutschen Landpost" etwa, dem Parteiorgan, hätte - jedenfalls in den Anfangsjahren - ein anderes Bild ergeben: Hier finden sich kaum Hinweise auf einen frühen Aktivismus des Bundes der Landwirte; aus einer Vielzahl von Artikeln spricht dagegen die blanke Ablehnung des neuen Staates - ein Befund, der im Rahmen der Argumentation erklärungsbedürftig wäre. Breit rezipiert Sobieraj dagegen das zeitgenössische Schrifttum, dessen Aussagen sie allerdings nicht selten unkritisch übernimmt. Das gilt insbesondere für die Memoiren Milan Hodžas, die sehr häufig als Beleg herangezogen werden, ohne in Rechnung zu stellen, dass es sich um die posthum verfassten Aufzeichnungen eines beteiligten Akteurs handelt, die nicht zuletzt dem Zweck dienten, die eigene Person ins rechte Licht zu rücken. Der Mangel an kritischer Distanz führt bisweilen dazu, dass Sobieraj den altbekannten Positionen des "Volkstumskampfs" verhaftet bleibt - etwa hinsichtlich der Debatte um die Bodenreform (60-66), einem ganz zentralen Thema für eine Partei, die sich Vertretung agrarischer Interessen auf die Fahne geschrieben hatte. Die Rezeption der neueren Forschung hätte hier differenzierte Erklärungsansätze geliefert.[2]
Der Haupteinwand richtet sich jedoch gegen den Untersuchungszeitraum, der im Jahr 1929 endet. Diese Zäsur, die in der Sache keine Begründung findet, wird allein mit "der immensen Fülle des zu untersuchenden Quellenmaterials" gerechtfertigt (6), welche die ursprünglich geplante Untersuchung bis 1938 unmöglich gemacht habe. Dieses Argument kann nicht überzeugen, schließlich steht jeder (Zeit-)Historiker vor dem Problem, aus der Fülle des Quellenmaterials eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Die Folgen dieser zeitlichen Einschränkung sind gravierend, denn damit gerät die Phase des "Aufsaugens" des Bundes der Landwirte durch die Sudetendeutsche Partei weitgehend aus dem Blick. So bietet die Studie hinsichtlich der "Faschisierung" der sudetendeutschen Gesellschaft kaum Aufschluss. Darüber hinaus entziehen sich zentrale Leitfragen wie etwa die, ob "die Zerstörung der ČSR eine Folge innenpolitischer Versäumnisse oder vielmehr eine Folge äußerer Einflüsse" war (5), mit dieser zeitlichen Beschränkung einer sinnvollen Beantwortung.
Sobierajs weitreichende These zu den Ursachen des Untergangs der Ersten Republik ist daher nicht ausreichend unterfüttert. Ihrer Ansicht nach trug die tschechische Politik die Hauptverantwortung, da sie das Angebot der deutschen Aktivisten, loyal an der Regierung mitzuarbeiten, nicht durch ein ausreichendes Entgegenkommen in der Nationalitätenpolitik belohnt habe. Prag habe "fast jedwede Gelegenheit, sich der Loyalität nicht nur der Deutschen, sondern auch der Slowaken zu sichern" (244), verstreichen lassen. Daher habe die Tschechoslowakei "eine relativ leichte Beute für einen Aggressor wie Hitler werden" können (245).
Dass die bisweilen kleinliche und unnachgiebige Prager Politik das ihre dazu beigetragen hat, die Fundamente der Republik zu untergraben, ist unstrittig. Alleinige Ursache für die erdrutschartigen Erfolge der Sudetendeutschen Partei war sie jedoch keineswegs. Dafür spielten eine Reihe weiterer innerer und äußerer Faktoren eine wichtige Rolle, etwa die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten in Deutschland und die damit einhergehende Radikalisierung der reichsdeutschen Politik, der schwindende Rückhalt der Tschechoslowakei im internationalen System sowie die Übernahme austrofaschistischer Denkmodelle durch die sudetendeutsche Politik, um nur einige zu nennen. Nur eine detaillierte Untersuchung der Dreißigerjahre, die diese Faktoren gewichtet, kann einen plausiblen Erklärungsansatz für die Radikalisierung der Sudetendeutschen und den damit verbundenen Untergang der Tschechoslowakei liefern.
Somit ergänzt Sobierajs Dissertation die Arbeiten von Linz zwar in wichtigen Punkten. Eine aus den mittlerweile zugänglichen Quellen erarbeitete Erklärung für das Scheitern des sudetendeutschen Aktivismus liefert sie dagegen nicht - diese steht nach wie vor aus.
Anmerkungen:
[1] Norbert Linz: Der Bund der Landwirte auf dem Weg in den Aktivismus. Von der Gründung bis zur Regierungsbeteiligung (1918-1926), in: Karl Bosl (Hg.): Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. München / Wien 1979, 403-426, und ders.: Der Bund der Landwirte in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Struktur und Politik einer deutschen Partei in der Aufbauphase, München / Wien 1982.
[2] Zur Bodenreform siehe Mark Cornwall: National Reparation? The Czech Land Reform and the Sudeten Germans 1918-38, in: The Slavonic and East European Review 75 (1997), 259 - 280, und Jaromír Balcar: Instrument im Volkstumskampf? Die Anfänge der Bodenreform in der Tschechoslowakei 1919/20, in: VfZ 46 (1998), 391-428.
Jaromír Balcar