Norbert Angermann / Klaus Friedland (Hgg.): Novgorod. Markt und Kontor der Hanse (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Neue Folge; Bd. LIII), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 246 S., ISBN 978-3-412-13701-4, EUR 34,90
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Seit 1970 veranstaltet der Hansische Geschichtsverein in den früheren Gastgeberländern der Hanse Kolloquien, mit denen er die wissenschaftlichen Kontakte zu den Forschern des entsprechenden Landes fördert, archäologische, topografische und kulturgeschichtliche Aspekte vor Ort in die Tagungen einbezieht und das Interesse der dortigen wissenschaftlichen Institutionen an der Hansegeschichte weckt beziehungsweise stärkt. Nach Bergen (1970), London (1974), Visby (1984) und Brügge (1988) trafen sich im Juni 1992 28 Forscherinnen und Forscher aus Deutschland und Russland in Novgorod, um über den Russlandhandel der Hanse und den Großmarkt Novgorod zu diskutieren. Zehn Jahre nach dem Kolloquium liegt der Sammelband mit zwölf wissenschaftlichen Beiträgen, einem kurzen Vorwort von Klaus Friedland und einem Exkursionsbericht von Arnd Reitemeier vor. Dank der Tatsache, dass die maßgeblichen Experten beider Länder für eine Mitarbeit gewonnen werden konnten, haben die Beiträge trotz der langen Frist zwischen Tagung und Erscheinen des Bandes nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mit dem Band liegt nun eine weitgehend aktuelle (leider haben nicht alle Beteiligten die Chance genutzt, die überschaubaren Neuerscheinungen der Jahre 1992-2002 nachzutragen und in ihre Überlegungen einzubeziehen) Bestandsaufnahme der Forschung vor, die bei jeder weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Materie gern zurate gezogen werden wird.
In seiner Einleitung weist Klaus Friedland darauf hin, dass Novgorod das Hansekontor mit der ältesten, vorhansisch einsetzenden Wirtschaftsgeschichte ist und benennt die zentralen Probleme, die Kolloquium und Band beherrschen: die Handelswege und der Großmarkt Novgorod, die hansischen und russischen Handelsgüter sowie die Handelsbeziehungen zwischen Hansestädten und Rus. Norbert Angermann gibt im Folgenden eine aktuelle Übersicht über den Forschungsstand zum Warenaustausch zwischen der Hanse und Russland. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden von Historikerinnen und Historikern Deutschlands, Russlands, aber auch vor allem aus den baltischen Staaten vielfältige Erkenntnisse zur Organisation des Handels, zu Handelsprofit, Handelsgütern und -gesellschaften publiziert. Die Hoffnungen der Forschung sind vor allem auf weitere Erkenntnisse der Archäologen gerichtet, die erst einen Bruchteil des mittelalterlichen Novgorod ergraben haben. Auch neuere russische Urkundeneditionen und die Rückführung von im 2. Weltkrieg ausgelagerten Archivbeständen versprechen wichtige Impulse für die Forschung. Angermann benennt als Desiderate eine genauere Betrachtung der Handelstätigkeit der russischen Kaufleute vor allem in Livland, eine Untersuchung des mittelalterlichen Waffenhandels mit der Rus oder des Hamburger Russlandhandels des 17. Jahrhunderts. Er erinnert zudem daran, wie wenig über das Russlandbild der Hansekaufleute bekannt ist und dass Vergleiche des Novgoroder Kontors mit den anderen Kontoren der Hanse, aus denen sich bestimmte Sonderentwicklungen erklären ließen, weitgehend fehlen. Zudem fehlt eine neuere Gesamtdarstellung des hansischen Russlandhandels.
Den ersten Schwerpunkt eröffnet Hugo Weczerka, der in seinem Beitrag daran erinnert, dass der frühe hansische Handel ohne die Beziehungen zum nordwestrussischen Raum undenkbar gewesen wäre, und die einzelnen Handelswege analysiert. Er verfolgt, wie sich das Handelsnetz in Nordeuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit derart verdichtete, dass die Bedeutung des hansischen Kaufmanns als Vermittler bereits gesunken war, bevor das Novgoroder Kontor 1494 geschlossen wurde. Rolf Hammel-Kiesow vergleicht das Siedlungsgefüge Novgorods und Lübecks miteinander und macht dabei jeweils Aussagen zur Entwicklung des räumlichen Gefüges, zu Verfassungs- und verwaltungstopografischer Gliederung, Siedlungsfläche, Einwohnern, Grundstücksgefüge sowie zur Sozial- und Berufstopografie. Dem annähernd gleichen Ablauf der äußeren Siedlungsentwicklung steht ein unterschiedlicher innerer Ausbau der Städte gegenüber. Auf zahlreiche, zum Teil entscheidende Widersprüche in der bisherigen Stadtgeschichtsschreibung Novgorods macht Valentin Lavrent'evič Janin aufmerksam. Er fragt nach Zeit und Umständen der Stadtgründung, nach der ökonomischen Basis des Novgoroder Bojarentums, der Stellung des Handwerks in der Sozialstruktur der Stadt sowie des Bojarenhofs als Grundeinheit der Stadtstruktur und kommt dabei zu teilweise erstaunlichen neuen Erkenntnissen. Birte Schubert liefert einen guten Überblick über das hansische Leben im Novgoroder Kontor, analysiert die Administrationsstruktur in der Niederlassung und die Wechselwirkung zwischen Hansetagen, verschiedenen Hansestädten und Kontor. In einer Liste nennt sie die nachweisbaren Ältermänner und Hofknechte zwischen 1372 und 1519, wertet die wenigen überlieferten Informationen zu einzelnen Amtsträgern aus und kommt zu dem Schluss, der Aufstieg der Hofknechte zum höchsten Amtsträger im Kontor zeuge vom "unaufhaltsamen Niedergang der Niederlassung in Novgorod". Sehr verdienstvoll ist der Beitrag Norbert Angermanns, der den Handel deutscher Kaufleute zwischen 1494 und 1721 untersucht. Bisherige Darstellungen blenden diese Periode oft aus, Angermann argumentiert, dass Novgorod als Handelszentrum für Livländer, Lübecker und Hamburger Bedeutung besaß, bis Russland Ostseehäfen gewann und Petersburg gründete.
Im zweiten Schwerpunkt des Bandes untersucht Elena Aleksandrovnä Rybina den Handel seit dem 9. Jahrhundert. Gestützt auf archäologische Funde stellt sie sowohl west- und nordeuropäische als auch starke slawische Einflüsse fest. Sie argumentiert, dass die Hanse im 13. Jahrhundert auf ein voll ausgebildetes Beziehungsgeflecht zwischen Novgorod und Westeuropa zurückgreifen konnte. Elisabeth Harder-Gersdorff untersucht hansische Handelsgüter auf dem Großmarkt Novgorod zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert und unterscheidet in dieser Epoche den klassischen Novgorodverkehr zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert, bei dem Pelze und Wachs ausgeführt wurden, das 16. und 17. Jahrhundert, in denen der Westen Rohstoffe und Halbfabrikate (Hanf, Flachs, Talg) aus Russland bezog, und die Periode seit 1650, in der Juchtenleder und Talg exportiert wurden. Importgüter aus dem Westen blieben Tuche, Bunt- und Edelmetalle sowie Genussmittel.
Der Schwerpunkt Handelsbeziehungen wird durch Arnd Reitemeier mit einem Beitrag über Sprache und Sprachpolitik im Russlandhandel der Hanse eröffnet, in dem er zunächst die Bedeutung der "tolke" in Diplomatie und Handel der livländischen Städte hervorhebt. In Novgorod lassen sich nur selten feste Dolmetscher für die Hanse nachweisen, häufig wurden Söhne und Gehilfen von Hansekaufleuten zum Spracherwerb nach Novgorod entsandt. Um ihre Stellung im Russlandhandel nicht zu gefährden, erschwerte die Hanse allen Konkurrenten das Lernen der Sprache und verbot Übersetzungen für sie. Harald Witthöft untersucht die Überlieferung von Waage und Gewicht seit dem Smolensker Vertrag von 1229 in Quellen aus Novgorod und dem Dünaraum und benennt zunächst grundlegende Eigenarten des mittelalterlichen Maßgebrauchs seit dem 13. Jahrhundert, die er dann auf den Russlandhandel bezieht. Die Klagen gegen Kaufleute wegen Anwendung falscher Maße führt er nicht auf Betrugsabsicht zurück, sondern auf ungewohnte Verpackungen, Gewichte und Kaufmannspraktiken, die durch neue Waren und Märkte in den hansischen Handel eindrangen. Die verschiedenen Maßeinheiten werden sehr gut zueinander in Beziehung gesetzt, ausgewählte Quellen in einem Anhang vorgestellt. Den Kredit im Hansehandel mit Pleskau untersucht Anna Leonidovna Choroskevic anhand des berühmten Gesprächsbuches des Tönnies Fonne. Nach Nennung einiger sprachlicher Formen zu Tauschhandel und Barkauf wird das Auftreten des Kredits in dem Buch Fonnes in zahlreichen Varianten dargestellt. Walter Stark analysiert marktbezogenen Warenverkehr und Handelsgewinne im hansischen Russlandhandel vor allem anhand der Kaufmannsbücher und Briefe von und an Hildebrand Veckinchusen. Er weist darauf hin, wie schwierig es aufgrund der politischen, räumlichen und klimatischen Bedingungen war, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen, um Profite erzielen zu können. Mit 12 bis maximal 20% pro Jahr waren diese vergleichbar mit anderen großen Handelslinien im Weichselraum oder Süddeutschland.
Der Band stellt eine wichtige Bestandsaufnahme der Forschung zum hansischen Russlandhandel dar, enthält zahlreiche neue Erkenntnisse und bietet einen unverzichtbaren Ausgangspunkt für weitere Arbeiten.
Nils Jörn