Michael Lüthy: Bild und Blick in Manets Malerei (= Berliner Schriften zur Kunst; Bd. 17), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003, 261 S., 71 Abb., ISBN 978-3-7861-1897-8, EUR 64,00
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Die Kunstwissenschaft kennt ihre Pappenheimer. Sie weiß um ihre Stars, um die etablierten, die man nicht mehr suchen, wohl aber hätscheln muss, weil sie alles andere als pflegeleicht sind. Gewiss, es gibt keine Probleme, das eine oder andere ihrer Werke als Chef-d'œuvre der Kunstgeschichte zu bezeichnen. Sehr viel schwieriger als die Klassifikation ist da schon die Begründung. Denn das zum Mythos geronnene Meisterwerk hat seine offene Semiotik längst unter der Kruste des Klischees eingebüßt. Sie wiederzugewinnen, ist nicht einfach. Der Versuch setzt die Bereitschaft voraus, den Blickwinkel der Interpretation radikal zu revidieren.
Ein besonders problematischer Star war und ist der Maler Edouard Manet (1832-1883), der gleich reihenweise das Publikum des 19. Jahrhunderts mit Bildtypen revolutionärer Prägung schockte. Um das Provokative seiner Bildinhalte zu entschärfen, verteidigte Emile Zola 1867 das vier Jahre vorher entstandene "Frühstück im Freien" (Paris, Musée d'Orsay) gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit: Manet komme es gar nicht auf das Thema an, sondern auf die "peinture pure" (die "reine Malerei"). Diese Sentenz prägte lange die Forschung. Erst 1954 rückte Nils Sandblad die inhaltliche Dimension der Bilder in den Vordergrund. [1] Insbesondere die amerikanische Wissenschaft ist ihm gefolgt. Damit hatten sich die Verhältnisse umgekehrt: Die Diskussion des brisanten Sujets siegte über die Analyse der "reinen Malerei". Michael Lüthy folgt nicht dieser mittlerweile kanonischen Richtung. Er lenkt stattdessen das Interesse auf eine Vorgehensweise, die schon des Öfteren, freilich nur am Rande befolgt worden ist. Er untersucht die Blicke aus den Bildern und das Blicken auf die Bilder. Denn schließlich sei das kardinale Sujet der Manet'schen Gemälde der Blick: "Oft ist er das einzige, was in ihnen 'geschieht', ihre eigentliche 'Handlung'." (9) "Durch die [...] aus dem Bild heraus gerichteten Blicke kehren sich die Raumenergien um. [...] Der Schauplatz des Bildes ist [...] nicht nur die schmale imaginäre Bühne, auf die der Betrachter sieht. Vielmehr wird der Raum zwischen Bild und Betrachter zum eigentlichen Schauplatz." (10) Lüthy will also bildstrukturellen Fragen wieder zu neuem Recht verhelfen.
Seine Abhandlung beruht auf einer Dissertation, im Jahre 2000 an der Universität Basel eingereicht. Um es vorwegzunehmen: Das Buch beeindruckt. Es verrät eine profunde Kenntnis der Manet-Literatur, ihrer Ergebnisse, aber auch ihrer Sackgassen. Und es weiß souverän diese Erkenntnisse, vor allem die rezeptionsästhetischen, für die eigene Aufgabenstellung fruchtbar zu machen. Dabei vermeidet es (mit ganz wenigen Ausnahmen) jene künstlich verklausulierte Diktion, jenes demonstrative Ausbreiten einer Stofffülle, die in Dissertationen häufig Gelehrsamkeit suggerieren sollen. Es kleidet seine Aussagen in eine schöne, kluge, abgewogene Sprache. Deshalb ist das Buch gut zu lesen. Es dienert sich dem Leser aber auch nicht an. Denn es zwingt ihn, sich höchst konzentriert auf die Bildbeispiele einzulassen. Folgt man dieser Aufforderung, wird der Gewinn, den man aus Lüthys Erörterungen zieht, immens sein.
Lüthy geht von dem aus, was bereits zeitgenössische Betrachter vor Manets Leinwänden beklagten: dass sich nämlich die einzelnen Figuren zu keiner kohärenten Szene zusammenschließen. Doch eben dies war die Absicht des Künstlers, instrumentalisiert über die Art der Blicke und des Blickens. Der visualisierte Blick ist nicht länger der Darstellung bestimmter Inhalte verpflichtet, sondern inszeniert die geistige Begegnung zwischen Kunstwerk und Beschauer; fast drängt sich der Begriff interaktiver Kommunikation auf. Dass die zumeist "leeren", am Betrachter vorbeistreifenden Blicke des Bildpersonals als Zeichen für die gesellschaftliche Entfremdung der Dargestellten zu werten seien, glaubt Lüthy nicht. Im Exkurs auf Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts begreift er die Desintegration vielmehr so: "Angesichts des spezifischen 'In-der-Welt-Seins' von Manets Figuren erscheint es angemessener, von einem Entfremdungsbegriff auszugehen, der diese im menschlichen Bewusstsein selbst ansiedelt" (57). Lüthy dechiffriert die mit einander verschränkten Komponenten, Blick der Figuren, Bildstruktur und Betrachterbezug dahingehend, dass "der Betrachter genau in der Weise auf das Bild blickt, wie die Figuren im Bild blicken" (60). Resultat ist ein hauptsächlich selbstreflexiver Charakter der Kompositionen, der nichts mit purer Formalität oder gar dem Pleinair des Impressionismus zu tun habe.
Ein Höhepunkt des Buches scheint mir die Analyse des Gemäldes "Die Erschießung Maximilians", genauer gesagt, der fünf existierenden Fassungen dieses Motivs. An diesem Werk hatte Sandblad 1954 erstmals die Frage nach der Bedeutung des Sujets im Schaffen Manets aufgeworfen. Davor hatte das Bild als Hauptbeleg für die Auffassung gedient, es gehe Manet ausschließlich um reine Malerei. Weder mit der einen noch mit der anderen Deutung gibt sich Lüthy zufrieden. Wieder ist es das Moment des Blicks, das ihn - im Vergleich mit Francisco de Goyas "Erschießung der Aufständischen" von 1814 (im Prado) - zu ebenso erstaunlichen wie anschaulichen Ergebnissen führt. Das Bild schert seiner Ansicht nach vollkommen aus der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts aus: "In der fast zweijährigen Arbeit an diesem Thema [...] malte sich Manet allmählich zu einer Bildkonzeption zurück, die längst der Vergangenheit anzugehören schien" (144). Zugleich aber griff er zu einem Mittel der Irritation: "Verantwortlich dafür ist [...] die [...] blickzerstreuende, dezentrierende Bildstruktur, die den Blick hartnäckig vom Geschehen wegführt" (146). Lüthy verfolgt diese Strategie über die wechselnden Fassungen hinweg und verknüpft sie mit der spannenden Tatsache, dass Manet den ursprünglich vorgesehenen Anführer des Erschießungskommandos übermalte und von ihm nur noch einen roten abstrakten Streifen übrig ließ - dergestalt die Möglichkeit künstlerischen Darstellens avantgardistisch zuspitzend: Man denkt an Balzacs Erzählung "Le chef-d'œuvre inconnu" von 1831, in der der Maler Frenhofer als Meisterwerk ein formloses Chaos von Farben auf der Leinwand hinterlässt.
Konsequent schreitet Lüthy sein Leitthema, die Wechselbeziehung zwischen Bild und Blick, auf seine ultimativen Möglichkeiten hin ab. Nicht überraschend also, dass er mit Manets letztem Hauptwerk "Un bar aux Folies-Bergère" von 1881/82 (London, Courtauld Institute Galleries) schließt und dieses mit Velázquez' "Las Meninas" (1656/57, Prado) vergleicht. Jene Ausführungen bilden einen weiteren Höhepunkt. Denn das rätselhafte Bar-Interieur mit seinen irrealen Spiegelungen stellt Lüthys Methode auf die entscheidende Probe. Und sie besteht sie glänzend. Das kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Das schöne Resümee lautet: "So offenbart Un bar aux Folies-Bergère den leeren Platz des Subjekts. Die leise Melancholie, die Manets spätes Bild durchweht, gleicht der Trauer über den Verlust von etwas, was nie besessen wurde: das volle Sein, das mit einer Welt eins ist, weil es in ihr das eigene Bild wieder findet" (182).
Traditionsbruch, das lernt man aus dem Wechselspiel von Bild und Blick in Manets Malerei, stiftet bei diesem Künstler zugleich einen Traditionsbezug. Deshalb ist Manet kaum zu etikettieren, deshalb ist er ein so unbequemer Star der Kunstgeschichte. Ein Star aber ist er allemal - und Lüthys Ausführungen lassen besser verstehen, warum. Ein schönes, ein wichtiges Buch!
Anmerkung:
[1] Nils Gösta Sandblad: Manet, Three Studies in Artistic Conception. Lund 1954.
Norbert Wolf