Alexander Vatlin: Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin: BasisDruck Verlag GmbH 2003, 296 S., ISBN 978-3-86163-130-9, EUR 19,80
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Eine russische Kirche, ein Schloss, ein Sommerhaus, ein Paar neben einem Baum am Flussufer, Sommerfrischler um 1900, die Damen in weißen Kleidern mit Sonnenschirm, die Herren in eleganter Uniform: Es sind idyllische Aufnahmen, die Alexander Vatlin an den Anfang seines Buches gestellt hat, Ansichten aus dem südwestlich von Moskau am Ufer der Moskwa gelegenen Kunzewo, das, einst ein bojarisches Erbgut, im 19. Jahrhundert ein beliebter Sommersitz für begüterte Moskauer und 1925 zur Stadt erhoben wurde. Im Jahr 1937 lebten hier 40.637 Menschen. Die Zeiten waren damals jedoch alles andere als idyllisch. Im hinteren Teil des Buches findet sich eine fünfzehnseitige Liste mit den Namen von 565 Einwohnern Kunzewos, überschrieben "1937 und 1938 von der Kreisdienststelle Kunzewo des NKWD verhaftete, verurteilte und erschossene Einwohner aus Kunzewo". Die Liste ist unvollständig; noch sind nicht alle Namen der Opfer bekannt. In den neun Monaten, in denen der in mehreren "Massenaktionen" ins Werk gesetzte Große Terror auch in Kunzewo tobte - die Massenverhaftungen endeten hier bereits Anfang April 1938 abrupt -, wurden mindestens 583 Menschen verhaftet, von denen 272 zum Tode durch Erschießen, die anderen in der Regel von außergerichtlichen Instanzen (Trojkas und Dwojkas) zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurden.
Der "Terror im Rajonmaßstab", wie der Titel der russischen Ausgabe lautet [1], ist das Thema von Vatlins Studie, deren Lektüre eine Erfahrung aus der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen bestätigt: So bestürzend die großen Zahlen sind - beim Großen Terror 1937/38 geht es um zirka 1,5 Millionen Verhaftete, von denen etwa 700.000 erschossen wurden -, wirklich begreifbar wird das Geschehen erst, wenn überschaubare soziale Formationen in den Blick genommen werden. Zwar sind in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem in Russland, seit den frühen 90er-Jahren weit über 100 Gedenkbücher für einzelne Regionen und Städte entstanden, die neben Opferlisten und Dokumenten zum Teil auch wissenschaftliche Aufsätze enthalten. Doch die Form der Lokalstudie, die Vatlin gewählt hat, ist eine wichtige Neuerung. Denn der, wie man heute weiß, von der politischen Spitze lancierte und gelenkte Terror bedurfte zu seiner Umsetzung des Netzes der lokalen Dienststellen der Geheimpolizei. Ohne deren Handlungsspielräume und Eigeninteressen sind die Spezifika des Terrors nicht zu verstehen. "Auf der Kreisebene erreichte die Absurdität der stalinschen Repressalien ihren Gipfelpunkt", stellt Vatlin fest. Das Moskauer Gebiet, zu dem Kunzewo gehörte, umfasste 52 Rajons, die Stadt selbst 20. In jeder gab es ein Rajotdel', sodass im Schnitt auf 60-70.000 Bürger eine solche Kreisdienststelle entfiel. "Dieses dichte Netz garantierte die Effektivität des Terrors." Der Rajon Kunzewo war eine für das Russland der Zwischenkriegszeit typische Region, zeichnete sich aber dadurch aus, dass sich dort die Landhäuser Stalins und einiger seiner Gefolgsleute befanden. Wegen ihrer besonderen Bedeutung war die Kreisdienststelle Kunzewo des NKWD daher für nicht wenige Mitarbeiter ein Karrieresprungbrett auf höhere Posten in der nahe gelegenen Hauptstadt. Es konnte aber auch anders enden: Alexander Kusnezow, Leiter der NKWD-Dienststelle und sein Stellvertreter Wiktor Karetnikow gerieten im Sommer 1938 selbst in die Mühlen des Terrors. Sie sollten als Repräsentanten einer groß angelegten "trotzkistischen" Verschwörung in der Führung des NKWD des Moskauer Gebietes herhalten. Gegen den Strich gelesen, gibt das von Vatlin ausgewertete Untersuchungsmaterial dieses "Falles" einiges für das Verständnis der Mechanismen des Terrors im Rajon Kunzewo und der Beziehungsgefüge im Inneren des NKWD her.
Die operativen Befehle für die Massenoperationen gegen ehemalige Kulaken, Oppositionelle und andere antisowjetische Elemente sowie gegen Angehörige als illoyal verdächtigter Nationen sind seit einiger Zeit bekannt. Vor Ort wurden sie, wie Vatlin zeigt, unter Mobilisierung aller Reserven umgesetzt. Die Partei ordnete sogar Studenten der Moskauer Hochschulen, die Jura oder verwandte Fächer studierten, in die NKWD-Abteilungen ab. Das von der Universität mitgebrachte Wissen erwies sich allerdings oft als wenig tauglich. Dass es darauf ankam, die Zustimmung zu vorgefertigten Aussagen wenn nötig aus den Verhafteten herauszuprügeln, gehörte nicht zum offiziellen Lehrstoff der sowjetischen Jurisprudenz. Vatlin hat festgestellt, dass alle zehn operativen Mitarbeiter, die 1937/38 in Kunzewo tätig waren, auf Mittel der "physischen Einwirkung" zurückgriffen. Konkret und detailliert schildert er, wie Inkriminierte gezwungen wurden, leere Protokollformulare vorab zu unterschreiben, Berufszeugen und andere Denunzianten zum Einsatz kamen, die Untersuchungsführer immer wieder mit dem Hinweis angetrieben wurden, unzureichende Resultate würden sie selbst in den Verdacht der Sabotage bringen, was zur Erfindung immer neuer "Verschwörungen" führte. Kusnezow, der Chef, erteilte dabei professionellen Rat: Die Untersuchungsführer sollten sich informieren, wo und in welchem Beruf der Verhaftete arbeitete; es sollte nicht vorkommen, "daß man einen Schuster der Diversion an der Drehbank anklagt". Was von oben mit ideologischem Fanatismus initiiert worden war, wurde unten mit grenzenlosem Zynismus durchexerziert. Dazu gehörte selbstverständlich auch ein gerüttelt Maß an Korruption. Nicht selten eigneten sich NKWD-Mitarbeiter die Wohnungen von Verhafteten an, beschlagnahmte Gegenstände konnten sie für Spottpreise erwerben, und noch unmittelbar vor der Erschießung nahmen dafür abkommandierte operative Mitarbeiter ihren Opfern Geld und Wertgegenstände ab, um dafür den "zu ihrer Entspannung" benötigten Wodka zu erwerben.
Vatlin stellt sich der schwierigen Aufgabe der Quellenkritik der Verhörprotokolle und hält fest, dass die Vorwürfe gegen die Opfer des Terrors nicht durchweg völlig aus der Luft gegriffen waren. Vieles, wie sowjetfeindliche Gedichte, Anekdoten und Spottlieder hätten sich die Untersuchungsführer einfach nicht ausdenken können. Für ihre Urheber waren solche Äußerungen meist verhängnisvoll, auch wenn sie oft nur dazu dienten, sich Luft zu machen. Wer etwa Genugtuung über die Ermordung des Leningrader Parteichefs Kirow im Dezember 1934 äußerte - das kam relativ häufig vor -, konnte sich schnell als präsumtiver Terrorist in den Zellen der NKWD-Kreisdienststelle wieder finden. Die Tschekisten entwickelten eine beträchtliche Fantasie, wenn es darum ging, an sich harmlose Schmähkritik zu gefährlichen Verschwörungen aufzublasen. In vielen Fällen gerieten völlig unschuldige Menschen ins Mahlwerk des Terrors, etwa die deutschen Emigranten in Kunzewo, von denen einige vor dem Nazi-Regime in die Sowjetunion geflohen waren, oder jene Familie, die einige Zimmer an einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft vermietet hatte, und das mit ihrer völligen Auslöschung "büßen" musste. Vatlin erzählt eine ganze Reihe solch exemplarischer Verfolgungsgeschichten. Vielfach sind sie mit Fotos privater Provenienz oder auch erkennungsdienstlichen Aufnahmen illustriert. Hier endet dann auch das fotografische Idyll. Neben die Opferliste hat der Autor ein Bild des übermannshohen, blickdichten Zauns des NKWD-Schießplatzes in Butowo gestellt. Dort wurden 1937/38 mehr als 20.000 Einwohner des Moskauer Gebiets erschossen, darunter auch die Opfer von Kunzewo. Den Anstoß zu seiner Studie hat Vatlin durch die Mitarbeit in einer Gruppe bekommen, die ein siebenbändiges Gedenkbuch für die Butowo-Opfer vorgelegt hat. Sein Buch ermöglicht ein tieferes Verständnis der Umsetzung des Großen Terrors vor Ort und sollte für weitere Lokalstudien beispielgebend sein. Dass die russische Ausgabe nur in einer geradezu lächerlichen Auflage von 700 Stück erschienen ist, ist nicht zuletzt deshalb zu bedauern.
Anmerkung:
[1] A. Ju. Vatlin: Terror rajonnogo masštaba: "Massovye operacii" NKVD v kuncevskom rajone Moskovskoj oblasti 1937-1938 gg. M. 2004.
Jürgen Zarusky