Igor Chramov (Hg.): Alexander Schmorell. Gestapo-Verhörprotokolle Februar-März 1943. RGWA F. 1361 K op. 1 d. 8808, Orenburg: o.V. 2005, 152 S., ISBN 978-5-7689-0125-7
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Nach dem Erfolg des Kinofilms "Sophie Scholl" von Marc Rothemund, der auf den Gestapo-Verhörakten Sophies beruhte, wird die Schwester von Hans Scholl in der breiteren Öffentlichkeit mehr denn je als der Inbegriff der "Weißen Rose" betrachtet. An ihrer mutigen und entschiedenen Haltung gibt es keinen Zweifel, was aber ihre faktische Rolle in der Geschichte der "Weißen Rose" betrifft, so war nicht sie die Zentralfigur, sondern vielmehr ihr Bruder zusammen mit dem viel zu wenig beachteten Alexander Schmorell. Im Begleitbuch zum Film sind nicht nur die Verhörprotokolle von Sophie Scholl, sondern auch die von weiteren Mitgliedern der "Weißen Rose" publiziert worden, darunter auch die von Alexander Schmorell. [1] Letztere waren erst Anfang der 90er-Jahre bekannt geworden, als das Moskauer Sonderarchiv seine Pforten für die Forschung öffnete. Der Berliner Historiker Hans Coppi, Sohn der ermordeten Widerstandskämpfer der Roten Kapelle, Hans und Hilde Coppi, hat sie dort entdeckt.
Praktisch zeitgleich mit der Publikation des Filmbuchs sind die Verhörprotokolle Schmorells, ergänzt durch begleitende Dokumente, vor allem das Urteil aus dem Prozess vor dem Volksgerichtshof, in einer bemerkenswerten Edition im Faksimile veröffentlicht worden. Wer allerdings den Verlagsort auf einer Landkarte Deutschlands sucht, wird wenig Glück haben. So vertraut der Name "Orenburg" in deutschen Ohren klingt, es ist doch eine südrussische Stadt, nahe dem Ural und der Grenze zu Kasachstan. Sie war die Geburtsstadt von Alexander Schmorell, der der Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter war. Alexanders Vater war Arzt, doch seiner Frau hatte er nicht helfen können. Sie starb zwei Jahre nach der Geburt des Sohnes an Typhus. Der Vater ging bald darauf nach Deutschland, nach München, wo Alexander, der eine russische Kinderfrau hatte, zweisprachig aufwuchs, russisch-orthodoxer Konfession war und sich immer mehr als Russe fühlte, später Freundschaft mit Hans Scholl schließen sollte.
Diese Freundschaft war die Grundlage der Entstehung der "Weißen Rose". Ihre ersten Flugblätter wurden von Alexander Schmorell und Hans Scholl gemeinsam verfasst. In den Texten, die darauf zielten, insbesondere Angehörige des deutschen Bildungsbürgertums zum Widerstand gegen die Hitler-Barbarei zu motivieren, kommt es nicht zum Ausdruck, aber ein zentrales Motiv für den Widerstand von Alexander Schmorell war seine Identifikation mit dem russischen Volk. Immer wieder kommt er in den Verhören darauf zurück und betont zugleich seine scharfe Unterscheidung zwischen Russland und dem Bolschewismus. Hinsichtlich Russlands betrachte er sich als Monarchisten.
Igor Chramov, der Herausgeber der Verhörprotokolle, heute Präsident der gemeinnützigen Stiftung Eurasia, die in Orenburg internationale Kulturarbeit betreibt, ist diplomierter Germanist und hat einige Jahre in Deutschland im Außenhandel gearbeitet. Als er darauf stieß, dass ein Mitglied der "Weißen Rose" in seiner Heimatstadt geboren ist, ließ ihn das nicht mehr los. Jahrelange Forschungen, Kontakte zur Familie Schmorell und eine im Jahr 2001 erschienene Biografie Alexander Schmorells mit dem Titel "Die russische Seele der 'Weißen Rose'" [2] erwuchsen aus dieser Faszination, und jetzt die Edition der Verhörprotokolle, in faksimilierter Form und zugleich in russischer Parallelübersetzung. Das Ziel der Publikation ist es, russischen Lesern zu verdeutlichen, dass ein in Russland geborener junger Mensch, der sich als ihr Landsmann fühlte, eine Zentralfigur einer der prominentesten deutschen Widerstandsgruppen war. Die Bedeutung der "Weißen Rose" leitet sich vor allem aus ihren Flugblättern ab, die eine ganz eigenständige Position darlegten und ohne Zweifel zu den größten geistigen Leistungen des deutschen Widerstands zählten. In Chramovs von Elena Źirova nicht nur geschmackvoll, sondern geradezu liebevoll gestalteter Edition werden die Flugblätter in deutscher und russischer Sprache in der Form von eingefügten Nachahmungen von Kuverts präsentiert, wie sie die "Weiße Rose" verschickte. Dass damit die Flugblätter der "Weißen Rose" in russischer Sprache zugänglich gemacht werden, scheint dem Rezensenten ebenso wichtig wie die Publikation der Verhörprotokolle.
Chramov hat im übrigen noch mehr geleistet. Zusammen mit der "Weißen Rose"-Stiftung hat er in den Jahren 1999 bis 2004 die Präsentation der Ausstellung "Die Weiße Rose - studentischer Widerstand gegen das Hitlerregime 1942/43", die als ständige Ausstellung in der DenkStätte Weiße Rose in der Ludwig-Maximilians-Universität München zu sehen ist, durch 16 russische Städte organisiert. Im vergangenen Jahr, am 16. September, dem Geburtstag Alexander Schmorells, hat diese Ausstellung eine dauerhafte Heimat in den Räumen der Staatlichen Pädagogischen Universität Orenburg gefunden, die nun auch über eine DenkStätte zur Weißen Rose verfügt.
Vor dem Hintergrund dieses Engagements und dieser Vermittlungsleistung sind kritische Bemerkungen zur Edition aus historisch-professioneller Sicht sicherlich als zweitrangig zu betrachten. Vorgebracht müssen sie dennoch werden. Sie beziehen sich vor allem auf Chramovs Einschätzung, die publizierten Verhörprotokolle bedürften keiner besonderen Erläuterung. Tatsächlich spricht gerade diese Quellengattung nicht für sich selbst. Das Verfolgungsinteresse der Polizei, die existenzielle Bedrohung des Verhörten - Schmorell wurde zwei Tage nach der öffentlich lautstark verkündeten Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts festgenommen -, der Wunsch Mitwisser zu schützen und sich doch selbst, möglichst auf Kosten derer, denen es nicht mehr schaden kann, zu entlasten - all das macht aus solchen Verhörprotokollen eine höchst delikate Quellengattung, deren Interpretation großer Sorgfalt bedarf.[3]
Eines allerdings wird auch ohne detaillierte Quellenkritik klar sichtbar, und das ist es wohl, worauf es dem Herausgeber ankommt: die zwiespältige Lage des Alexander Schmorell als Deutscher und Russe in dem grausamen Krieg zwischen beiden Völkern. Schmorell hat den Zwiespalt nicht verinnerlicht. Zusammen mit Hans Scholl und Willi Graf, die wie er Medizin studierten, war er kurze Zeit in einem Sanitätsbataillon in Russland. Hätte man ihn gezwungen, dort mit der Waffe zu kämpfen, hätte er das verweigert, sagte er in seinem Verhör aus. Aber auf diese Probe kam es gar nicht an. Schmorell hatte seine Position schon vorher bezogen, im Sommer 1942, als er zusammen mit Hans Scholl die ersten Flugblätter der "Weißen Rose" verfasst und verbreitet hatte. Der Russlandaufenthalt hat die Widerstandshaltung bestärkt, aber nicht erst zum Durchbruch gebracht, wie eine verfehlte Deutung nahe legt.[4] Schmorell hat sich zu seinem Widerstand mit ähnlicher Klarheit bekannt wie Sophie Scholl und andere Mitglieder der "Weißen Rose": "Was ich getan habe, habe ich nicht unbewußt getan", hält das Verhörprotokoll fest, "sondern ich habe sogar damit gerechnet, dass ich im Ermittlungsfalle mein Leben verlieren könnte. Über das alles habe ich mich einfach hinweggesetzt, weil mir meine innere Verpflichtung zum Handeln gegen den nationalsozialistischen Staat höher gestanden ist."
Anmerkungen:
[1] Fred Breinersdorfer (Hrsg.): Sophie Scholl. Die letzten Tage. Frankfurt a.M. 2005, 437-465.
[2] Igor Chramov: Russkaja duša "Beloj rozy". Orenburg 2001.
[3] Vgl. Bernd-A. Rusinek: Vernehmungsakten, in: Ders. (Hrsg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit. Paderborn u. a. 1992, 111-131, sowie die hinsichtlich der eigentlichen quellenkritischen Probleme allerdings nur sehr kursorischen Bemerkungen von Gerd R. Ueberschär: Anmerkungen zu historischen Quellenstücken der Gestapo, in: Breinersdorfer (Hrsg.), Sophie Scholl, 341-355.
[4] Detlef Bald: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand. Berlin 2003. Kritisch dazu: Johannes Tuchel: Von der Front in den Widerstand? Kritische Überlegungen zu Detlef Balds Neuerscheinung über die "Weiße Rose", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), 1022-1045.
Jürgen Zarusky