Jerzy Kochanowski: In polnischer Gefangenschaft. Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945-1950, Osnabrück: fibre Verlag 2004, 521 S., ISBN 978-3-929759-62-4
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Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944-1989, Göttingen: Wallstein 2013
Seit den Neunzigerjahren hat die historische Forschung in und außerhalb Deutschlands das Thema Kriegsgefangenschaft neu für sich entdeckt. Den Gefangenen des Zweiten Weltkriegs wurde dabei besondere Aufmerksamkeit zuteil. Deren Geschichte findet zudem auch in der medialen Öffentlichkeit regelmäßig besondere Beachtung. [1] Angesichts des regen Interesses mag es überraschen, dass die Gefangenschaft deutscher Soldaten in Polen bislang kaum wirklich wahrgenommen wurde. Dies lag sicherlich an den vergleichsweise geringen Gefangenenzahlen und an der bis Anfang der Neunzigerjahre höchst unbefriedigenden Quellenlage. In Westdeutschland stellte zudem das übermächtige Thema der Vertreibung aus Polen andere Gruppenschicksale in den Schatten, während sich ostdeutsche und polnische Historiker keine kritische Gesamtschau leisten konnten oder wollten. Auf diese Weise wurde die Gefangenschaft in Polen letztlich zum Unteraspekt der Gefangenschaft in der UdSSR degradiert: Jerzy Kochanowski ist es in seiner - im Original 2001 in Warschau erschienenen - Monografie gelungen, "die grundsätzliche historische Divergenz dieser beiden historischen Phänomene" (17) zu verdeutlichen.
Insgesamt gerieten etwas über 50.000 deutsche Soldaten in polnischen Gewahrsam. Dabei wurde nur eine sehr geringe, kaum verlässlich zu bestimmende Anzahl Deutscher von polnischen Truppen, Milizionären oder anderen Einheiten auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs oder im Zuge von Säuberungsaktionen auf polnischem Gebiet gefangen genommen. Die überwältigende Mehrheit wurde Polen auf Geheiß Stalins im Spätsommer/Herbst 1945 vom sowjetischen Volkskommissariat für Inneres überstellt. Diese Entscheidung erfolgte bezeichnenderweise erst, nachdem das sowjetisch-polnische Kohleabkommen von August 1945 der UdSSR äußerst günstige Lieferkonditionen eingeräumt hatte.
Von den deutschen Soldaten in polnischem Gewahrsam sind mit etwa 6.000 circa 12 Prozent verstorben. Dieser Anteil liegt wesentlich unter dem für die UdSSR (rund 30 Prozent), überschreitet aber beispielsweise deutlich die (offizielle) Sterblichkeitsrate deutscher Kriegsgefangener in französischem Gewahrsam von 2,5 Prozent (472). Wie bei der Gesamtzahl, so scheitert auch hier eine hundertprozentig genaue Bestimmung an Definitions- und Überlieferungsproblemen: Die Grenzen zwischen Volks- und Reichsdeutschen, aber auch zwischen Kriegsgefangenen und Internierten lassen sich mitunter nicht mehr rekonstruieren. Auf der anderen Seite nahm die Registrierung der Gefangenen in Polen frühestens 1946 geordnetere Züge an. Nahezu 2.000 Gefangenen gelang die Flucht nach Deutschland. Die übrigen deutschen Kriegsgefangenen wurden bis zum Frühling 1950 repatriiert. Damit wurde die vom Rat der Außenminister 1947 gesetzte Frist um 16 Monate überschritten: Kochanowski weist überzeugend nach, dass die Gründe hierfür vor allem im Arbeitskräftebedarf des Kohlebergbaus, aber auch in organisatorischen Unzulänglichkeiten zu suchen sind.
Im Gegensatz zur Sowjetunion ist es in Polen nicht zu umfangreichen Prozessen gegen vermeintliche oder tatsächliche Kriegsverbrecher aus den Reihen der Kriegsgefangenen gekommen. Daneben setzten in Polen Bemühungen um die so genannte Reeducation der Gefangenen erst spät, Mitte 1948, ein. Bis dahin galt die ganze Aufmerksamkeit polnischer Dienststellen dem Arbeitseinsatz der Gefangenen. Dieser kam vor allem dem Kohlebergbau zu Gute; kleinere Kontingente besonders der so genannten Zentralen Arbeitslager Jaworzno und Warschau wurden aber auch in breiter regionaler Streuung der polnischen Bau- und Landwirtschaft zugewiesen (Anhang). Darüber hinaus arbeiteten Gefangene direkt für militärische Stellen.
Die für Kriegsgefangene zuständige Abteilung für Gefängniswesen und Lager (DWO MBP) des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit verfügte bis 1948 über kein eigenes Kriegsgefangenenreferat und befasste sich nur "im Bedarfsfall" mit den spezifischen Problemen der Gefangenen (81). Auf diese Weise unterstanden die Gefangenen je nach Arbeitsstelle faktisch verschiedenen Instanzen mit durchaus eigenen Prioritäten: der DWO selbst, der Zentralverwaltung der Kohleindustrie sowie dem Verteidigungsministerium beziehungsweise dem Korps für Innere Sicherheit. Kochanowski bezeichnet diese Strukturen als "Organisationschaos" (80) und beschreibt ihre hohe Anfälligkeit für Korruption und Missbrauch. Nur in einer Minderheit der Fälle wirkten sich lokale Sonderwege zugunsten der Gefangenen aus. Zugleich fehlte dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen, 1946 bis 1949 Lager in Polen inspizieren konnte, in dem Warschauer Kompetenzwirrwarr ein durchsetzungsfähiger Ansprechpartner.
Nach genauer Beschreibung dieser Grundsituation widmet sich Kochanowski detailliert wesentlichen Aspekten der Gefangenschaft Deutscher in Polen. Die quellennahe Darstellung des Arbeitseinsatzes (bis hin zum Versicherungsschutz), von Unterkunft, Ernährung und Bekleidung, der ärztlichen Versorgung, der Bestattung Verstorbener, von Postverkehr und Fluchtversuchen verdeutlicht die immense Bandbreite der Lebens- und Arbeitsbedingungen in polnischen Lagern. Eigene Abschnitte beleuchten die Aktivitäten des IKRK, untersuchen Beziehungen der Gefangenen zur polnischen Bevölkerung und die Behandlung deutscher Offiziere. Die Tätigkeit der "Antifa", der offiziellen Selbstverwaltung der Gefangenen ab 1948, stellte einen wichtigen Einschnitt dar, der ebenfalls ein eigenes Kapitel rechtfertigt. Ob die Kriegsgefangenenzeitung "Die Brücke" allerdings tatsächlich ein "recht erfolgreiches" Instrument der Indoktrinierung war (391), bleibt trotz der ausführlichen Behandlung zweifelhaft. [2] Die Selbstverwaltung hatte dagegen direkten Einfluss auf die Auswahl der Repatrianten, wie ein weiteres Kapitel belegt.
Kochanowski verfolgt zwei Ansätze, um zusätzliche Perspektiven auf die Geschichte deutscher Gefangener in Polen zu eröffnen. Die Einbeziehung des Schicksals nichtdeutscher Gefangener beschränkt sich politikbedingt auf die Frage der Repatriierung. Der Abgleich mit dem Schicksal Deutscher in tschechischer und französischer Gefangenschaft musste skizzenhaft bleiben. Hier wäre eine vergleichende Analyse polnischer Lager für unterschiedliche Häftlingsgruppen möglicherweise ergiebiger gewesen. Die Gegenüberstellung polnischer und deutscher, vor allem aber der Vergleich polnischer mit sowjetischen Kriegsgefangenenlagern, ist ebenso gut denkbar. Die Übersetzung verzichtet allerdings auf den entsprechenden allgemeinen Forschungsüberblick, der im Original geboten wird (17 f.).
Die Untersuchung Kochanowskis fußt auf einer beeindruckenden Fülle lange Zeit unzugänglicher polnischer sowie österreichischer und deutscher Archivalien. Der Autor konzentriert sich dabei vor allem auf die administrative Perspektive. Die für das weitere Polenbild der Deutschen relevanten kollektiven Verarbeitungsprozesse der Gefangenen werden dagegen bewusst ausgeklammert. (18 f.) [3] In mitunter detektivischer Kleinarbeit legt Kochanowski die zahlreichen Widersprüche und Reibungen interner Prozesse offen. Dabei legt er besonderes Gewicht auf die Ignoranz polnischer Dienststellen gegenüber völkerrechtlichen Vorschriften. Polnische Erfahrungen mit der deutschen Besatzung verschlechterten vielfach die Behandlung erheblich. Die Darstellung Kochanowskis vermittelt den Eindruck, dass dem Drang nach Vergeltung vor Ort nicht mit der gebotenen Konsequenz Einhalt geboten wurde.
Die enge Verzahnung verschiedener Aspekte der Gefangenschaft macht Wiederholungen in der Darstellung zum Teil unvermeidlich. Die angesprochene Bandbreite unterschiedlicher Bedingungen spiegelt sich in einer Vielzahl von überzeugend ausgewählten Detailschilderungen und Zitaten, ohne dass Kochanowski die Grundlinie seiner Argumentation aus dem Auge verliert. Eine zusätzliche, gesonderte Aufstellung der relevanten statistischen Angaben hätte allerdings dem Leser die Orientierung erleichtert. In diesem Kontext ist auf einen unschönen Fehler in der ansonsten angemessenen Übersetzung hinzuweisen: Russische Namen, Titel und Bezeichnungen dürfen in einer deutschen Ausgabe nicht polonisiert werden, um eine eindeutige Identifizierung zu ermöglichen. Im Text, im Register oder im Literaturverzeichnis muss es daher Ivan A. Serov statt Iwan A. Sierow, Petrov statt Pietrow und Konasov an Stelle von Konasow heißen.
Kochanowski stellt in seiner Darstellung die These auf, dass "es in Polen eigentlich keine Kriegsgefangenenlager im klassischen Sinne gegeben hat" (79). Diese These geht von zu engen, idealtypischen Vorstellungen aus. Sie lässt sich aber zugleich in eine andere Richtung erweitern: Bis 1948 hat es in Polen im Grunde keine Kriegsgefangenenpolitik gegeben, die über einen möglichst billigen und zugleich möglichst intensiven Arbeitseinsatz der Gefangenen hinausgegangen wäre. Dieser Gesamtbefund gilt im Wesentlichen auch für die Jahre 1948/49. Es ist das Verdienst der Arbeit Kochanowskis, diesen grundsätzlichen Mangel aufgezeigt und seine Folgen überzeugend herausgearbeitet zu haben. Auf diese Weise eröffnet seine Untersuchung zugleich eine weitere Dimension, die bei der Untersuchung und Interpretation des Phänomens Kriegsgefangenschaft allgemein, besonders aber bei der Analyse der Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg in Betracht gezogen und gewichtet werden muss.
Anmerkungen:
[1] Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999; ders., Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2000.
[2] Vgl. hierzu jetzt auch Daniel Schwane, Zur Umerziehung deutscher Kriegsgefangener in Polen 1947-1949, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 4 (2004), Nr. 4.
[3] Vgl. hierzu weiterhin Otto Böss, Die deutschen Kriegsgefangenen in Polen und der Tschechoslowakei, München 1974.
Andreas Hilger