Włodzimierz Borodziej / Jerzy Kochanowski / Joachim von Puttkamer (Hgg.): »Schleichwege«. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 381 S., ISBN 978-3-412-20561-4, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Jerzy Kochanowski: In polnischer Gefangenschaft. Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945-1950, Osnabrück: fibre Verlag 2004
Joachim von Puttkamer: »Ich werde mich nie an die Gewalt gewöhnen«. Polizeibrutalität und Gesellschaft in der Volksrepublik Polen, Hamburg: Hamburger Edition 2022
Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018
Der Band versammelt Beiträge einer internationalen Tagung zu "inoffiziellen Begegnungen und Kontakten sozialistischer Staatsbürger" und ist gleichzeitig eine von mehreren zusammenfassenden Publikationen von Ergebnissen des gleichnamigen internationalen Forschungsprojekts. [1] Die im Titel hervorgehobenen "Schleichwege" sind in den Beiträgen Untersuchungsthema und Zugriffspunkt auf eine Alltagsgeschichte sozialistischer Staaten zugleich und sollen helfen, die Binnenperspektive dieser Länder zu überwinden.
Dabei konzentrieren sich die Untersuchungen auf fünf Themenschwerpunkte - "Grenzüberschreitungen und Verflechtungen", "Tourismus und Schleichhandel", "Politische Dimensionen", "Kulturelle Transfers" sowie "Vertragsarbeiter" - die jedoch nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden sind, was auch in der Heterogenität der hier zu besprechenden Beiträge begründet ist. Nach der Entstalinisierung entwickelte sich auch im Staatssozialismus ein zunehmend größeres Angebot an Tourismus und Reisen, das bald das sozialistische Ausland mit einschloss und durch die teilweise Abschaffung der Visumspflicht in den 1970er Jahren erheblich erleichtert wurde. Diese anfangs zumeist staatlich organisierten und später oft individuellen Grenzübertritte bilden neben den sogenannten "Vertragsarbeitern" den maßgeblichen Rahmen der untersuchten Kontakte, wobei sich die Einzelstudien jeweils auf eine Form der Grenzüberschreitung beschränken. Einen Schwerpunkt legt der Band auf das "nordwestliche Vierländereck" (367), nämlich die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und die DDR.
Tourismus ging in dem untersuchten Zusammenhang oftmals mit Schleichhandel einher und war Notwendigkeit oder gar eigentlicher Sinn einer solchen Reise ins Ausland. Schließlich ließ sich so der teure Auslandsaufenthalt finanzieren oder gar gewinnbringend nutzen, wie Jerzy Kochanowski anschaulich zeigt. Auch am Handel in Grenzstädten lässt sich ein solcher Eigensinn sozialistischer Staatsbürger nachzeichnen, der wie im Beispiel von Komárom (Komarnó) auf ältere und teils familiäre Verbindungen zurückgriff. Dem standen offizielle Fahrten, wie die von András Lénárt beschriebenen "Druschba Travels", oder auch der von staatlicher Seite sehr erschwerte Kontakt von Vertragsarbeitern zur örtlichen Bevölkerung, kaum entgegen. So bieten die Beiträge einen detaillierten Einblick in die sozialistische Mangelwirtschaft und zeigen, welche Strategien zur Kompensation dieser Mängel verbreitet waren. Daneben waren auch nicht-materielle Interessen auschlaggebend dafür, dass "Schleichwege" lohnenswert wurden, wie sich an den Möglichkeiten künstlerischer Entfaltung für Künstler aus der Tschechoslowakei oder Ungarn in polnischen Galerien oder den intellektuellen Bereicherungen durch Kontakte zu Polen und polnischen Themen in Leipzig analysieren lässt.
Mehrere Beiträge thematisieren zudem das Verhältnis zwischen den sozialistischen Staaten und kommen jenseits der propagierten Völkerfreundschaft zu stark einschränkenden Erkenntnissen hinsichtlich der immer wieder erwähnten schlechten oder reglementierten Behandlung ausländischer Touristen oder der schwierigen Aushandlung von zwischenstaatlichen Vereinbarungen. Hier und bei verschiedentlich aufgezeigten Transferprozessen könnte eine vergleichende Einbeziehung nicht-sozialistischer Länder hinterfragen, ob diese "Schleichwege" eine Besonderheit ihrer Situation und Region waren oder aber ein Charakteristikum von nationalstaatlichen Grenzen an sich darstellen. So zeigt Lars Fredrik Stöcker in seiner Betrachtung des polnischen politischen Exils, wie sich über Blockgrenzen hinweg beispielsweise auch Schweden in diese Geschichte der "Schleichwege" integrieren lässt. Dies ließe sich zweifelsohne ergänzen, denn immer wieder verweisen die Verfasser der einzelnen Beiträge auf die Relevanz westlicher Vorbilder für den östlichen Massentourismus. So bietet das in der vorliegenden Konzeption auf die sozialistische Staatlichkeit fokussierte Thema weitere vielversprechende Perspektiven einer transnationalen Betrachtung, die jedoch noch zu bündeln wären.
Im abschließenden Beitrag von Jaroslav Kučera drängen sich Fragen nach den vermeintlichen Widersprüchlichkeiten zwischen staatlicher Förderung von Auslandskontakten und eigensinniger Umdeutung dieser Kontakte auf. Seine These, dass der Auslandstourismus während des zunehmend konsumorientierteren Spätsozialismus systemstabilisierende Wirkungen hatte, die in den 1980er "Schleichwege" umso attraktiver werden ließen, vermag dabei zu überzeugen. Dennoch müssen, wie Kučera leider nur andeutet, zur Erklärung einer Anfangsmotivation, die Grenzen zwischen sozialistischen Staaten zu öffnen, auch weitere Aspekte mit einbezogen werden, die sich in den "weit reichenden ideologische[n] und politische[n] Vorgaben" (377) erkennen lassen.
Fraglich erscheint letztlich, ob die im Titel vorgeschlagene Unterscheidung zwischen offiziellen und inoffiziellen Kontakten gewinnbringend vorgenommen werden kann oder nicht eine bloß heuristische Übung bleibt. Die verschiedenen Beiträge zeigen vielmehr, dass offizielle Kontakte eine Bedingung inoffiziellen Austauschs sein konnten und selbst dabei noch eine Abgrenzung zwischen beiden Formen problematisch bleibt. Ein Ortsverzeichnis und eine Karte hätten das raumbezogene Erklärungspotenzial der Beiträge sicherlich gesteigert.
Obwohl der vorliegende Band darstellerisch, thematisch und methodisch höchst unterschiedliche Einzelstudien zusammenführt, vermag er durch die besondere Relevanz der von der Forschung bislang vernachlässigten alltäglichen Kontakte im Staatssozialismus bereichernde und für die weitere Forschung zur Transfer- und Verflechtungsgeschichte der sozialistischen Staaten Osteuropas anregende Erkenntnisse zu vermitteln. Dass viele Fallstudien Teilaspekte größerer Projekte darstellen, dürfte diese Einschätzung nur noch bestätigen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Włodzimierz Borodziej / Jerzy Kochanowski u.a. (eds.): Hidden Paths within Socialism (= Journal of Modern European History, 8,2), München 2010; dies. (Hgg.): Bocznymi drogami. Nieoficjalne kontakty społeczeństw socjalistycznych 1956-1989 [Auf Schleichwegen. Inoffizielle Kontakte sozialistischer Gesellschaften 1956-1989], Warszawa 2010.
Gregor Feindt