Rezension über:

Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalter. Bd. I, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2002, 467 S., ISBN 978-3-518-29198-6, EUR 15,00
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Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2003, 491 S., ISBN 978-3-518-29199-3, EUR 16,00
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Rezension von:
Jens Jäger
Historisches Seminar, Universität zu Köln / Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Jens Jäger: Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters (Rezension), in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/6470.html


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Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters

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Es gibt kaum eine kultur- oder sozialwissenschaftliche Disziplin, die in der Fotografie nicht inzwischen berücksichtigt würde. Die gleichzeitig zu beobachtende verstärkte Bild- und Medienorientierung der Forschung erhöht das Interesse für methodische und theoretische Arbeiten über ein Medium, das im 19. Jahrhundert mit Sicherheit eines der wichtigsten geworden ist: die Fotografie. Ist diese Zeit der Relevanz am Beginn des 21. Jahrhunderts vorüber? Jedenfalls deutet das der gemeinsame Untertitel "Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters" der beiden von Herta Wolf herausgegebenen Bände "Paradigma Fotografie" und "Diskurse der Fotografie" an. Allerdings repräsentieren die Bände eher das Gegenteil, denn es wird ein Überblick zur aktuellen Fotografieforschung und deren unmittelbaren Grundlagen geliefert. Der erste Band stellt in diesem Sinne fundamentale Fragen zur Fotografie als Medium und mediales Phänomen. Der zweite Band führt in Forschungen zur Rolle der Fotografie und fotografischer Bilder in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen und Diskursen ein.

Die Bände vereinen insgesamt 36 Aufsätze aus den vergangenen 25 Jahren. Es handelt sich vor allem um Beiträge von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern aus dem angelsächsischen und zu einem geringeren Anteil französischen Raum, darunter Arbeiten, die größeren Einfluss auf die Forschung ausgeübt haben, zum Beispiel von Alan Sekula, John Tagg und Rosalind Krauss. Einige Autoren sind mit mehreren Beiträgen vertreten: Rosalind Krauss, Abigail Solomon-Godeau und die Herausgeberin der Bände, Herta Wolf, mit insgesamt drei Beiträgen. Es finden sich aber auch Erstveröffentlichungen: im ersten Band ein Text von Wolfgang Hagen, im zweiten Band Aufsätze von Sally Stein, Carol Armstrong und Michel Frizot.

Ganz dem Charakter von Sammelbänden entsprechend sind nicht alle Beiträge gleichermaßen instruktiv oder von ähnlicher empirischer oder analytischer Schärfe. Das gilt für die erneut veröffentlichten ebenso wie für die eigens für die Bände verfassten Texte. Es kann an dieser Stelle nicht jeder einzelne Text für sich eingehend gewürdigt werden. Das fällt umso leichter, als einige der Texte inzwischen einen Grundlagenstatus besitzen, wie beispielsweise die Aufsätze von Victor Burgin (Einleitung zu "Thinking Photography", 1982) und Allan Sekula "Der Körper und das Archiv" (1986). Ähnliches gilt auch für John Tagg, Roland Barthes, Rosalind Krauss oder Abigail Solomon-Godeau, um nur einige weitere Beispiele zu nennen.

Die bis jetzt erwähnten Namen zeigen bereits, dass nicht "klassische" kunsthistorische, soziologische oder (sozial-)historische Arbeiten zur Fotografie oder Bildanalysen in den Bänden zu erwarten sind, sondern vor allem diejenige Forschung, die sich in Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Post-Strukturalismus, Semiotik, Michel Foucaults Schriften, Psychoanalyse und kritischen marxistischen Ansätzen entwickelt hat. Dadurch haben zahlreiche der vorgestellten Ansätze gemeinsame Fluchtpunkte, etwa in der Wahl der verwendeten historischen Quellen (Texte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Oliver Wendell Holmes, Jules Janin, Charles Baudelaire, François Arago), oder in Bezug auf bestimmte Schlüsselautoren, namentlich Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Siegmund Freud, Jacques Lacan, Michel Foucault und Roland Barthes.

Der erste Band ist anhand von Paradigmen der Fotografie strukturiert, die sich auf das "Apparative" der Fotografie zurückführen lassen, was den Diskurs um Fotografie seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung 1839 durchzieht. Im ersten Abschnitt geht es zwar allgemein um dieses "apparative Paradigma", tatsächlich liegt aber das Hauptgewicht auf einer Auseinandersetzung mit Roland Barthes und dessen Bestimmung des Wesens der Fotografie beziehungsweise der Rezeptionsweisen von fotografischen Bildern. Ergänzt wird dieser Abschnitt durch einen Text von Jonathan Crary, der statt auf die technischen Grundlagen stärker auf die Rolle des Betrachters eingeht.

Im folgenden Abschnitt werden Texte präsentiert, die sich mit dem seit den 1980er-Jahren deutlich abzeichnenden technischen Wandel in der Fotografie beschäftigen. Damit wird das "apparative Paradigma" auf einer technischen Ebene in der Gegenüberstellung von analoger und digitaler Fotografie differenziert (vor allem Hubert Damisch, Peter Lunefeld, Friedrich Kittler). Wolfgang Hagen betreibt in seinem Beitrag ein ähnliches, wenngleich gerade im Gegensatz zu Kittlers Text weitaus nachvollziehbareres Projekt der Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Fotografie, das auf seiner Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte zu Physik und Quantenmechanik aufbaut. Einen ebenfalls durch veränderte technische Möglichkeiten wie neue künstlerische Konzepte angeregten Paradigmenwechsel in der modernen Kunst beschreibt dagegen Rosalind Krauss.

Gemeinsame Klammer der nachfolgenden Abschnitte bildet der Bezugspunkt "Kunst", der in der öffentlichen Debatte um Fotografie stets wichtig gewesen ist, stellte das technische Medium doch die grundlegende Frage nach dem Wesen von Kunst und dem Anteil des Künstlers am Bildwerk. Fast zwangsläufig gerät somit gleichzeitig eine Institution in den Blick, die als Begegnungsstätte zwischen Publikum und Kunst im 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde: das Museum. Eingeleitet werden die Abschnitte durch eine allgemeine Diskussion über das Verhältnis Kunst und Fotografie (Alan Sekula, John Tagg). Eine Fokussierung erfolgt dann auf die Arbeit der fotografischen Abteilung des Museum of Modern Art (MoMA) in New York (Christopher Phillips, Abigail Solomon-Godeau).

Zu dieser Diskussion um das Museum of Modern Art passt auch der Aufsatz von Douglas Crimp, der aber im folgenden Abschnitt zu finden ist, der dem Themenkomplex Archivierung - Katalogisierung - Musealisierung gewidmet ist ("Museum ohne Wände"). Herta Wolf versucht in ihrem Beitrag die Zeitgleichheit von Fotografie und neuen Archivierungstechniken nachzuweisen. Benjamin H. D. Buchlohs Überlegungen zu Gerhard Richters Kunstprojekt "Atlas" führen in das Thema der Atlanten generell ein und diskutieren die Problematik des Montierens. Der abschließende Beitrag von Hal Foster verweist auf das Problem der Digitalisierung von Museumsbeständen und warnt vor der Beliebigkeit dadurch ermöglichter Kombinationen von Kunstwerken und Artefakten. Eine gesonderte Auseinandersetzung mit der Fotografie findet hier allerdings nicht statt.

Gerade eine engere Verzahnung der beiden letzten Abschnitte wäre wünschenswert gewesen, denn vielleicht hätte sich ein Aufsatz gefunden beziehungsweise in Auftrag geben lassen, der das Museum als Ort diskutiert hätte, an dem beides, Kunst und ihr Publikum, überhaupt erst geschaffen werden.

Der Band macht insgesamt einen etwas unausgewogenen Eindruck. Vor allem in der Debatte um den sich wandelnden technischen Charakter der Fotografie durch die Einführung digitaler Verfahren zeigt sich, wie in den vergangenen Jahrzehnten gerade von der Medienwissenschaft das Technische als Bestimmungspunkt medialer Eigenschaften und Wirkungen überstrapaziert wurde. Das erinnert an die frühen Debatten um die Fotografie im 19. Jahrhundert, in denen der Gegensatz zwischen Maschine und Hand einseitig überhöht wurde. Auch die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Status der Fotografie im Museum of Modern Art in New York erscheint übertrieben, wenngleich dies aus amerikanischer Sicht vielleicht anders aussehen mag. Zu fragen wäre trotzdem, ob das Museum of Modern Art wirklich eine derart prominente Rolle für die Musealisierung der Fotografie als "Kunst" gespielt hat, wie es hier den Eindruck erweckt, zumal in zahlreichen amerikanischen und europäischen Museen lange vorher Fotografie gezeigt und - auch unter dem Etikett Kunst - gesammelt wurde.

Der zweite Band "Diskurse der Fotografie" ist homogener und überzeugender, nicht zuletzt, weil er von Susanne Holschbach viel besser eingeleitet ist. Deutlich ist markiert, woher die Texte kommen und warum diese ausgewählt wurden. Die Auswahl fußt auf der unbestrittenen Bedeutung angloamerikanischer Konzeption von Fototheorie und -geschichtsschreibung, die Eingang in die europäische Forschung zur Fotografie gefunden hat.

Der Band ist in zwei große Abschnitte gegliedert, "Fotografie im Feld der visuellen Kultur" und "Medium des Wissens" (eine Überschrift, die allerdings nur im Inhaltsverzeichnis auftaucht). Der erste Abschnitt wird von Texten W.J.T. Mitchells und Victor Burgins eingeleitet, die verdeutlichen, auf welchen Konzepten und theoretischen Annahmen die folgenden Diskurse der Fotografie beruhen: Diskursanalyse, foucaultsche Machtanalyse, psychoanalytische Ansätze (Lacan, Freud) und poststrukturalistische Überlegungen.

Im ersten Unterabschnitt "Poltik(en) der Repräsentation" werden bestimmte Modi der fotografischen Darstellung kritisch untersucht. Zunächst setzt sich der Aufsatz von Abigail Solomon-Godeau mit dem in den 1930er-Jahren aufkommenden amerikanischen Konzept der Dokumentarfotografie auseinander. Stuart Hall liefert eine ausgewogene Analyse der Fotoberichterstattung über karibische Einwanderer in England in den 1950er-Jahren. Craig Owens befasst sich mit der Bedeutung und Deutung des Posierens, und David Bate diskutiert das von Homi Bahaba eingeführte Konzept der Mimikry im Rahmen kolonialer Fotografie, indem er die europäische Attitüde des Verkleidens analysiert.

Im Abschnitt "Bilderkonsum und visuelle Lust" geht es verstärkt um journalistische und private Fotografie. Sally Stein vergleicht in einem Originalbeitrag die beiden auflagenstärksten amerikanischen Illustrierten der 1930er- bis 1970er-Jahre "Life" und "Look", und Barry King präsentiert eine Studie zur Normierung der privaten fotografischen Praxis durch die (gegenwärtige) Fotoindustrie.

Die Auseinandersetzung mit dem psychoanalytischen Begriff des "Begehrens" befruchtet schon lange einen Zweig der Fotografieforschung, der die emotionalen Strukturen des Verhältnisses Foto - Betrachter zu ergründen sucht. Die Betrachtung zum Begriff des Fetisch im Vergleich von Foto und Kino (Christian Metz) machen den Anfang des Abschnitts zur "visuellen Lust". Die Studie zur pornografischen Inszenierung seit dem 19. Jahrhundert (Linda Williams) zeigt, dass sich die fotografische Praxis pornografischer Darstellungen nicht einseitig auf den männlich dominanten Blick reduzieren lässt, sondern stärker den historischen männlichen wie eben auch weiblichen Betrachter beinhalten müsste.

"Medium des Wissens" ist in zwei Unterabschnitte gegliedert. "Ordnungen der Fotografie - Ordnungen durch Fotografie" zeigt in Texten von Alan Sekula (Identifikationsfotografie) und Elizabeth Edwards (anthropologische Fotografie) die Verwendung der Fotografie zum Zweck von Ausgrenzung und Abgrenzung abweichender Gruppen von einer impliziten Norm, nämlich des bürgerlichen, weißen Mitteleuropäers.

Den Abschluss des Bandes bildet der Abschnitt "Mechanische(/s) Aufzeichnungsverfahren" zur Rolle der Fotografie und fotografischer Aufzeichnungstechniken in der Wissenschaft (Carol Armstrong, Peter Galison, Herta Wolf, Michel Frizot). Deutlich wird, dass Bildergebnis und Bildverwendung wissenschaftlichen Paradigmen und kulturellen Kontexten folgten, Fotografie in der Wissenschaft niemals simples Dokumentationsverfahren darstellt, sondern auf das Engste mit Forschungsabsicht und -ergebnis zusammenhängt.

Nach der Lektüre ist man tatsächlich über wichtige Strömungen in der Fotografieforschung orientiert. Allerdings drängen sich einige Fragen auf. Die erste Frage wird durch den Untertitel der Bände "Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters" angeregt. Das Ende des fotografischen Zeitalters? Worauf beruht diese Annahme? Steckt dahinter ein technischer Begriff des Fotografischen? Und was überhaupt ist es, das "Fotografische", das Herta Wolf in der Einleitung zum ersten Band zwar erwähnt, die Kenntnis des Begriffs bei den Leserinnen und Lesern aber vorauszusetzen scheint. Wolfs Verweis auf Rosalind Krauss geht ins Leere, denn die in den Bänden abgedruckten Beiträge von Krauss handeln andere Gegenstände ab. Auch ist die Bezeichnung von Fotografie als "chemo-technisches" Medium zumindest gewöhnungsbedürftig, da in dem Begriff der Aspekt des Optischen fehlt, der für die Fotografie doch ebenso entscheidend sein müsste. Sinnvoll ist diese Reduzierung nur, wenn damit vor allem das Ziel verfolgt wird, digitale Fotografie auszuschließen, denn bei dieser basiert die Bildspeicherung tatsächlich nicht auf einem chemo-technischen Verfahren, wenngleich aber auch sie auf optischer Apparatur beruht. Insgesamt vermisst man eine stärkere Diskussion der (historischen) Betrachter- und Nutzerperspektive.

Ebenso wird wie selbstverständlich vom "Medium" Fotografie gesprochen, was zwar unmittelbar einleuchtet, doch war es, oder wann wurde es, tatsächlich "Leitmedium" (Band 1, 17)? Die Einleitung zum ersten Band verweist in Richtungen, die in einem spezifischen fotografiewissenschaftlichen Diskurs zwar zu Selbstverständlichkeiten gehören, die einem etwas weiteren Interessentenkreis jedoch nicht ohne Weiteres klar sein dürften. So werden Fragen aufgeworfen und Themen angedeutet, zu deren Vertiefung und Darlegung die versammelten Texte eigentlich dienen müssten, es aber nicht unbedingt tun. Das kann zwar für den Kenner der Forschung sehr anregend sein, für jemanden, der sich in das Thema einarbeiten möchte, ist das jedoch möglicherweise verwirrend.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die beiden Bände ein willkommenes und bequemes Instrument der Forschung darstellen; auch ein Verdienst der guten Übersetzungen aus dem Englischen durch Wilfried Prantner. Die gegenwärtige "Fotokritik" und fotohistorische Forschung ist insgesamt allerdings vielfältiger und differenzierter, als sie in den beiden Bänden präsentiert wird. [1]


Anmerkung:

[1] Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Anthologie von Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002 sowie die vierbändige Theorie der Fotografie [1839-1995], hrsg. v. Wolfgang Kemp, München 1979-2000, deren letzter Band durch Hubertus v. Amelunxen herausgegeben wurde.

Jens Jäger