Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt (= Historische Semantik; Bd. 9), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 311 S., ISBN 978-3-525-36709-4, EUR 32,90
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In allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist seit einiger Zeit die Frage nach kolonialem und postkolonialem Denken sowie eine Neu- oder Umbewertung der (deutschen) Kolonialgeschichte bedeutsam. Fluchtpunkt vieler Arbeiten ist die Erkenntnis, dass koloniale Haltungen eben nicht davon abhängig sind, ob ein Staatswesen offiziell Kolonien besitzt oder besaß, sondern weitaus mehr eine Form des Denkens, der Weltsicht und eines darauf gründenden Handelns sind. Solche Formen des Denkens und der Weltsicht sind zudem nicht durch Staatsgrenzen beschränkt, sondern abhängig von dem, was als Berichte in Wort und Bild jeweils zugänglich ist.
Der Züricher Literaturwissenschaftler Christian Kiening hat seine literaturhistorische Untersuchung über die Poetik der Neuen Welt daher in einem langen Querschnitt von der Frühen Neuzeit bis in das frühe 20. Jahrhundert angelegt: die "Neue Welt" als erzählerisches und literarisches Phänomen von Kolumbus bis Kafka, wenn man so will. Die Analyse überspannt mehr als vier Jahrhunderte und beinhaltet Texte verschiedener Sprachräume, sodass trotz einleitender Bemerkungen zur Differenz der kolonialen Traditionen, vor allem europäische Gemeinsamkeiten betont werden. Das entspricht auch dem Umgang mit dem Begriff der "Neuen Welt", der eben vor allem literarisch gemeint ist und nur sekundär zwischen den Regionen Nord- und Südamerikas unterscheidet.
Amerika ist für Kiening deswegen besonders aufschlussreich, weil im Gegensatz zu den unmittelbar Europa benachbarten Kontinenten, der amerikanische Doppelkontinent nicht bereits durch antike und mittelalterliche Überlieferung in der europäischen Vorstellungswelt verankert war. Das galt zwar auch für Australien und Ozeanien, doch ist die "Entdeckung" Amerikas sicherlich das einschneidendere Phänomen gewesen. Und dann ist das "wilde Subjekt", wie Kiening auch einleitend erwähnt, ohnehin mehr im europäischen Selbst verankert, als im Fremden/Anderen der "Neuen Welt" zu verorten.
Die Formen der literarischen Aneignung gruppiert Kiening in sechs Themenblöcke: Alterität und Mimesis, Poetik der Passion, Kannibalische Logik - als eines der zentralen Motive -, Sinnliche Gegenwärtigkeit (Anwesenheit amerikanischer Artefakte und Personen in Europa und deren Repräsentation), Utopische Inseln und schließlich Reisen ins Selbst. Nur das letzte Thema ist chronologisch auf die Zeit seit der Aufklärung beschränkt. Generell liegt der Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit.
Die Studie verknüpft literaturwissenschaftliche Diskurs- und Textanalyse mit neueren kulturwissenschaftlichen Überlegungen und insbesondere mit Positionen postkolonialer Theorie. Das ist nicht immer einfach und setzt eine gewisse Vertrautheit mit den referierten Positionen voraus. Wichtig ist das auf Homi Bhabha zurückgehende Konzept des "dritten Raumes", das - stark verkürzt - Kontakt- und Konfliktzonen zwischen Kulturen markiert, in denen Sinnstiftungen ausgehandelt werden. In diesen "Räumen" bildeten sich auch hybride Formen, d.h. Mischformen erzählerischer, kultureller oder identifikatorischer Art. Dabei gerät auch die Frage nach dem Subjekt in den Blick: Wer schreibt, liest, verarbeitet oder schafft Wissen mit welchem Selbstverständnis und wie äußert sich das in Texten? Denn es sind Texte, die vor allem als Erscheinungsformen des "dritten Raumes" gelten müssen. Kiening macht auch deutlich, dass sein Interesse entsprechend der von ihm analysierten Materialien dem europäischen Selbstverständnis gilt.
Die Texte, die Kiening heranzieht, werden auf Grenzbereiche hin ausgelotet. Es geht um Bereiche, in denen klare Abgrenzungen zwischen fremd und vertraut nicht (mehr) gelingen. Eine analytische Hauptfigur ist die Betonung des Unbestimmten, des Uneindeutigen. Das ist eine Geste, die die "große" Erzählung meidet und den Blick auf das Kleine, Begrenzte, Vorläufige anmahnt, wobei insbesondere nach "Momenten von Innenansichten" gesucht wird (37). Daher auch das Wort "Kleine Poetik" im Untertitel. Letztlich aber wird doch ein großer Entwurf vorgelegt, nämlich die Geschichte der Entfaltung einer Poetik der Neuen Welt. Verfolgt wird, wie sich das Imaginäre der Neuen Welt ausbildete, welche Erzählmotive wichtig waren und welche Subjektformen sich herausbildeten, bis schließlich in der Moderne die "Neue Welt" zum "Reservoir des poetisch Imaginären" geworden sei (279), in der Reste des Unbewältigten und Abgründe des Selbst Themen sind - also immer auch fragile Subjekte präsent sind.
Die Arbeit präsentiert eine durchaus überzeugende Entfaltung eines Identitäts- und Alteritätsverständnisses der Moderne, wie es sich aus literarischen Texten ableiten lässt. Eine gewisse Schlüsselstellung kommt hier der Analyse von Michel de Montaignes Essais (1580) zu. Dort deute sich die "Konvergenz zwischen dem äußeren und dem inneren Fremden an, die für das Identitäts- wie Alteritätsverständnis der Moderne zentral werden wird" (156). Doch auch in der Art, die Neue Welt literarisch zu repräsentieren, finde sich bei Montaigne erstmals ein zentraler Punkt, und zwar in der spezifischen Form der Textkonstruktion, die auf "invention" basiere, und damit für das Imaginäre der Neuen Welt wichtig sei (157).
Die Arbeit zeigt, wie fruchtbar ein anderer Blick auf die Quellen sein kann. Kienings Sichtweise richtet sich auf die Texte selbst und ihre Beziehungen zum europäischen Imaginären. Dies hat in der Geschichtswissenschaft bereits seinen Platz - verwiesen sei nur auf die auch von Kiening herangezogenen Arbeiten von Susanna Burghartz. Doch noch stärker akzentuiert Kiening die Binnenstruktur und Erzählweise, die Rhetorik und die Bezüge zu anderen Texten. Diese diskursive Einbettung verdeutlicht, dass Texte über koloniale Geschehnisse hochcodiert und komplex sind. Eindringlich zeigt Kiening, dass man nur mit Vorsicht aus den analysierten Texten die Spuren indigener Äußerungen herauspräparieren kann - wenn dies überhaupt bei den bearbeiteten Texten sinnvoll wäre. Doch bei aller Skepsis gegenüber Schlussfolgerungen auf eine historischen Realität, über welche die Texte zu berichten scheinen, bleibt offen, wie das Verhältnis der analysierten Texte zu anderen Texten beschaffen ist, welche von der Geschichtswissenschaft, anders als von der Literaturwissenschaft, auch herangezogen werden: Schreiben von Verwaltungen, juristische und kommerzielle Akten, offizielle und inoffizielle Berichte, Inventare usw. Allerdings ist diese Frage auch nicht im Konzept Kienings angelegt (und insofern kein Mangel des Buches); ihm geht es um die großen Linien. Daher muss letztlich auch ein recht homogenes Europabild unterstellt und von regionalen oder nationalen Besonderheiten abgesehen werden. Ebenso wird der Begriff "Neue Welt" weit ausgelegt. Das kann dadurch gerechtfertigt werden, dass auch Orte jenseits Amerikas (oder imaginierte wie Thomas Morus' Utopia), durch die koloniale Erfahrung zusammengekoppelt sind. "Neue Welt" ist dann Chiffre für das Fremde oder Andere schlechthin. In diesem Fall aber ergeben sich zwei Fragen, deren Bearbeitung wünschenswert erscheint: Welche Rolle spielt genauer die Perspektive der Autoren, die ja mehrheitlich weiß, eher elitär, männlich und urban gewesen sind? Und: Welches Verhältnis ergibt sich aus den Abgrenzungen zum internen "Anderen", d.h. zu den Angehörigen europäischer Minderheiten und anderweitig Ausgegrenzten? Diese zwei Fragen führen aber über das Konzept des Buches hinaus. Sie zeigen, dass die erfreulich knappe Darstellung "Das wilde Subjekt" weitere Forschungen und Diskussionen zur Präsentation und Repräsentation des Fremden in Europa anregen und begleiten kann. Die manchmal schwere Kost ist eben auch reichhaltig und appetitanregend.
Jens Jäger