Wolfgang Schieder / Achim Trunk (Hgg.): Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im "Dritten Reich" (= Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus; Bd. 7), Göttingen: Wallstein 2004, 450 S., ISBN 978-3-89244-752-8, EUR 34,00
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Als die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) 1997 anlässlich der fünfzigsten Wiederkehr ihrer Gründung im darauf folgenden Jahr eine unabhängige Expertenkommission unter dem Vorsitz von Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder einsetzte, lautete die Zielsetzung, die Beziehungen ihrer Vorgängerinstitution, der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, zum NS-Regime rückhaltlos und so vollständig wie möglich auszuleuchten. Die durchaus mutige Offensive der MPG in Sachen selbstreflexiver Vergangenheitspolitik resultierte nicht zuletzt aus der wachsenden Kritik an ihrer bis dahin defensiv geführten Auseinandersetzung mit dem Handeln ihrer führenden Repräsentanten und Institutsleiter im "Dritten Reich". Diese Kritik machte sie vor allem an der Person von Adolf Butenandt fest, neben Werner Heisenberg der vielleicht wichtigste Naturwissenschaftler Deutschlands im 20. Jahrhundert. Der 1903 geborene Biochemiker hatte nicht nur als Wissenschaftler reüssiert, bereits 1937 war er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Seine überragenden kommunikativen Fähigkeiten hatten ihm auch als Wissenschaftspolitiker eine glänzende Karriere ermöglicht, die durch die Präsidentschaft "seiner" Max-Planck-Gesellschaft von 1960 bis 1972 als Nachfolger Otto Hahns gekrönt worden war. Spätestens als Butenandt dem Biologen Benno Müller-Hill Mitte der 1980er-Jahre die Veröffentlichung des Protokolls eines Interviews zu seiner Tätigkeit im Nationalsozialismus und einer möglichen Mitwisserschaft an den Experimenten des Dahlemer Kollegen Otmar Freiherr von Verschuer mit dem aus Auschwitz stammenden Humanmaterial des Verschuer-Schülers Josef Mengele untersagte, war der MPG-Ehrenpräsident aber der Verstrickung in die NS-Verbrechen verdächtig. Im Umfeld einer sensibilisierten Fachöffentlichkeit häuften sich die Anschuldigungen, die jüngst darin gipfelten, Butenandt habe sich "im Zentrum der deutschen Kriegs- und Vernichtungsforschung" befunden. [1] Demgegenüber stand eine weitgehend hagiografisch gehaltene Biografie aus dem Schülerkreis von Butenandt, die ihn als ebenso herausragenden wie integeren Wissenschaftler und Wissenschaftspolitiker konturierte. [2]
Die Person Butenandts einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, gehörte damit zum Pflichtprogramm der Präsidentenkommission, und dies umso mehr, als ihr erstmals der bislang gesperrte Nachlass des Forschers zur Verfügung stand. Die vorliegende Sammlung von elf Aufsätzen nähert sich der Person Butenandt multiperspektivisch an und kommt am Ende zu einer differenzierten Kernaussage, die im wesentlichen dem Bild entspricht, das die historische Forschung der letzten Jahre zum Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus entworfen hat: Butenandt war zwar nicht in die medizinischen Verbrechen des Regimes involviert und auch kein intellektueller Zuträger der NS-Rassenpolitik, aber er nutzte die erweiterten Ressourcen, die ihm vom NS-Staat zur Verfügung gestellt wurden, für den gezielten Ausbau seines Forschungsfeldes im Kontext einer ideologisch entgrenzten wissenschaftlichen Praxis. Nach 1945 definierte er einerseits seine in enger Kooperation mit der pharmazeutischen Industrie betriebene Forschung semantisch in reine Grundlagenforschung um und konstruierte sich eine Biografie, die ihn nicht nur vor dem drohenden Zugriff der Alliierten schützte, sondern auch in die junge Bundesrepublik passte. Andererseits engagierte er sich bei Bestrebungen zu einem demokratischen Umbau der deutschen Bildungslandschaft und mahnte eine Selbstkontrolle der Wissenschaft an. Kurzum: Wie Heisenberg repräsentiert auch Butenandt den gebrochenen Normaltypus wissenschaftlicher Karriereverläufe während der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts.
Mit dem doppelten dualen Begriffspaar von "Reinigung und Assoziierung" und "Leistung und Vernunft" beschreibt Heiko Stoff in seinem besonders gelungenen Beitrag Butenandts individualbiografische Verarbeitung des Nationalsozialismus. Assoziierung steht dabei für die überragende Fähigkeit Butenandts, weitgespannte soziale Netzwerke zu knüpfen, aber auch für sein Bestreben, Konsens herzustellen und damit zur inneren Befriedung der jungen Bundesrepublik beizutragen. Die Zielkategorien Leistung und Vernunft sollten sowohl die Vergangenheitspolitik als auch den Wiederaufbau anleiten. Wie sehr diese Kategorien trugen, kann Jeffrey Lewis am Beispiel der Überwindung des "Kalten Kriegs in der Max-Planck-Gesellschaft" zwischen den in Tübingen und damit in der französischen Besatzungszone ansässigen Institutsleitern und der Göttinger Generalverwaltung der MPG zeigen. Als der in Tübingen als überzeugter Nationalsozialist stigmatisierte Generalsekretärs Ernst Telschow versuchte, die Autonomie der Südwestinstitute zu beschneiden, stieß er auf erbitterten Widerstand, und es bedurfte des Verhandlungsgeschicks eines Butenandt, um die tiefen Gräben zuzuschütten, die der Nationalsozialismus gerissen hatte. Butenandts erfolgreiche Politik der Konsensfindung und inneren Befriedung hing, wie Carola Sachse in ihrem Beitrag zur prekären Freundschaft Butenandts zu Verschuer zeigt, nicht zuletzt davon ab, dass er in der Öffentlichkeit auf Distanz zu seinem kollegialen Freund ging und die Kontaminierung seiner Netzwerke mit den NS-Verbrechen vermied - ebenso von seinem gezielten Einsatz für die Rückkehr der von den Nationalsozialisten vertriebenen jüdischen Wissenschaftler, worauf Michael Schüring am Beispiel von Carl Neuberg verweist, Butenandts Vorgänger als Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie.
Die zentrale Argumentation des Buches gibt der Beitrag des Mitherausgebers Wolfgang Schieder über die Verknüpfung von Butenandts wissenschaftlicher und weltanschaulicher Orientierung vor. Gestützt auf die ebenso dichte wie aussagekräftige Korrespondenz mit den Eltern, skizziert Schieder Butenandt als typischen Vertreter der sog. Kriegsjugendgeneration, die das fehlende Fronterlebnis und die Erfahrung des Versailler Vertrags durch einen umso entschiedeneren Nationalismus kompensierten. Zentral für sein Verhalten wurde die Verabsolutierung des Pflichtgedankens, die ihn im "Dritten Reich" trotz einer wachsenden politischen Entfremdung zum Regime Hitlers bis zum Schluss an "kriegswichtigen" Forschungsprojekten arbeiten ließ. Aus einer detaillierten Analyse dreier in der Forschung umstrittener Projekte in Butenandts Umfeld zieht Schieder den Schluss, dass der Nobelpreisträger mit der Vernichtungspolitik des NS-Regimes in keinem direkten Zusammenhang gestanden und es bei ihm "weder wissenschaftliche Gründe noch gar eine ideologische Motivation für ethisch unzulässige Experimente mit Menschen oder menschlichen Organen" gegeben habe (69). Moralisch versagt habe Butenandt aber insofern, als er seine Mitarbeiter nicht davon abgehalten hatte, die Grenze zu ethisch unzulässigen Experimenten zu überschreiten.
Diese Einschätzung wird in den Beiträgen von Bernd Gausemeier, Hans-Jörg Rheinberger, Jean-Paul Gaudillière und Mitherausgeber Achim Trunk im wesentlichen bestätigt. Ohnehin zeichnet sich der Band durch eine für ein Sammelwerk bemerkenswerte Homogenität von Fragestellung, Thesenbildung und Ergebnissen aus. Offensichtlich sind die Beiträge in Teamarbeit entstanden und durch mehrfaches Gegenlesen in den Ergebnissen aufeinander abgestimmt worden. Störend wirken allerdings einige thematische Redundanzen. So wird etwa die Geschichte von Butenandts kurzzeitiger Gefangennahme durch eine französische Militärstreife im März 1947 auf Grund eines amerikanischen Haftbefehls von nicht weniger als fünf Autoren erzählt. Eine moderne, multidimensional angelegte Biografie, die Butenandts gesamtes wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Wirken umfasst, kann der Band denn auch nicht ersetzen. Die selbstgestellte Aufgabe, das Verhältnis des Biochemikers zum Nationalsozialismus in kritischer Perspektive auszuleuchten, erledigt er aber mit Bravour.
Anmerkungen:
[1] Angelika Ebbinghaus / Klaus Heinz Roth: Von der Rockefeller Foundation zur Kaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft. Adolf Butenandt als Biochemiker und Wissenschaftspolitik des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), 389-418, 410f.
[2] Peter Karlson: Adolf Butenandt. Biochemiker, Hormonforscher, Wissenschaftspolitiker, Stuttgart 1990.
Helmuth Trischler