Michael Wobring: Die Globalisierung der Telekommunikation im 19. Jahrhundert. Pläne, Projekte und Kapazitätsausbauten zwischen Wirtschaft und Politik (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1012), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 370 S., ISBN 978-3-631-53622-3, EUR 56,50
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Globalität und Globalisierung als Forschungsperspektive und leitende Fragestellung haben in den letzten Jahren, mit reichlicher Verzögerung sowohl gegenüber den sozialwissenschaftlichen Debatten als auch gegenüber dem angloamerikanischen Raum, in dem die Ablösung der "World History" durch die "New Global History" seit längerem im Gang ist, mittlerweile auch die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft erreicht. Erste zusammenfassende Forschungsüberblicke und forschungsbündelnde Großkonferenzen unterstreichen diesen Perspektivwechsel. [1] Wie sehr dieser Perspektivwechsel trägt und welche heuristischen, analytischen und explikatorischen Vorzüge er gegenüber etablierten Forschungsansätzen aufweist, erweist sich insbesondere aber auf der Ebene von historischen Fallstudien und Einzeluntersuchungen wie der vorliegenden von Michael Wobring, die 2004 von der Universität Göttingen als Dissertation angenommen worden ist.
Ziel der Arbeit ist es, die Ausbreitung und Anwendung der Telegrafie seit ihren Anfängen im späten 18. Jahrhundert bis zum Ausbau eines weltumspannenden Drahtnetzes vor dem Ersten Weltkrieg zu betrachten und diesen langfristigen Prozess auf seine wichtigsten Einflussgrößen hin zu untersuchen. Der Fluchtpunkt liegt dabei auf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die als Konstituierungsphase einer von den Nutzern geprägten Telekommunikationsentwicklung interpretiert wird. Die grundlegende These lautet, dass die Globalisierung im Bereich der Telekommunikation in den 1820er-Jahren begann und weniger von nachrichtentechnischen Innovationen ausging, als vom wachsenden Bedarf an den sich entwickelnden Märkten des interkontinentalen Verkehrs von Gütern und Wissen stimuliert wurde. Wobrings wirtschaftshistorisch angelegte Arbeit setzt sich ab von jener Interpretation, die technischen Neuerungen eine Schlüsselrolle für die dynamische Entwicklung der Telekommunikation in seinem Untersuchungszeitraum zuschreibt. Vor allem relativiert er die Bedeutung der erfolgreichen Verlegung der ersten Seekabel in den 1860er-Jahren, die zwar einen Qualitätssprung in der telekommunikationstechnischen Globalisierung gebracht habe, aber nicht ursächlich für die Herausbildung weltumspannender Nachrichtennetze gewesen sei. Damit steht er durchaus im Einklang mit den jüngeren technikhistorischen und sozialwissenschaftlichen Debatten, freilich ohne diese Debatten zu kennen. Seine Revision des Forschungsstands stößt weitgehend ins Leere, denn Innovationen und deren erfolgreiche Durchsetzung werden von der jüngeren Forschung in der Abkehr von produktions- und angebotsorientierten Ansätzen vor allem als nutzer- und bedarfsgeprägte Phänomene verstanden.
Das mittlerweile geflügelte Wort, am Anfang war Napoleon, trifft in doppelter Weise auch auf die Telekommunikation zu. Nicht nur errichteten Claude Chappe und seine Brüder während der Französischen Revolution das französische Telegrafennetz als weltweit erstes Telekommunikationsnetz. In der revolutionsbedingten Krise verbreitete sich die neue Technologie rasch europaweit, wobei die entstehenden Netze allenthalben unter staatlicher Kontrolle politisch-militärischen Zwecken vorbehalten blieben. Jenseits der realen, auf die Grenzen der sich formierenden Nationalstaaten bezogenen Netze entstanden im Klima der Spätaufklärung visionäre Netze in den Köpfen bürgerlicher Ökonomen wie Carl Friedrich Buschendorf, der die Idee einer telegrafisch verknüpften Welt propagierte. Sein Konzept einer Optimierung des Getreidehandels zwischen Böhmen und Norwegen mithilfe des Telegrafen wurde nicht realisiert, im Unterschied zum bereits im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verwirklichten Telegrafennetz in Dänemark, das unter anderem für die Übertragung von Wechselkursen und damit für internationale wirtschaftliche Transaktionen genutzt wurde. Hier wie auch in der Nutzung der spanischen Telegrafenlinie Cadiz-Madrid für die Meldung des internationalen Schiffsverkehrs und in der zunehmenden Standardisierung der technischen Hardware (Geräte) und Software (Signalsprachen) verortet Wobring die Anfänge der von Europa ausgehenden Globalisierung der Telekommunikation.
Der kontrastierende Vergleich von Preußen und den USA verdeutlicht die Entfaltungsmöglichkeit der Telegrafie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Preußen steht für das etatistische Konzept, bei dem die neue Technik unter dem Primat der Politik stand und allein für politisch-militärische Zwecke genutzt wurde. Der Zusammenhang zwischen Krisenerfahrung und Netzentwicklung ist evident. Staatstelegrafie stand in Frankreich im Zeichen der Revolution und Kriegsführung sowie in England und Preußen im Zeichen der Abwehr innerer und äußerer Bedrohungen. Den Durchbruch des Telegrafen in Preußen brachte die Julirevolution, und unter dem Eindruck der Märzrevolution wurde die Einführung eines elektromagnetischen Telegrafennetzes in Angriff genommen, ein überaus aufwändiges und riskantes Unterfangen, das 1849 mit vielen Mängeln und Kinderkrankheiten in Betrieb genommen wurde. Die USA markieren den gegensätzlichen Weg von sich unter dem Primat der Wirtschaft entwickelnden Netzen. Die vor allem an der Ostküste gebauten Linien waren regionalräumlich angelegt und benötigten eine Stammklientel, um kommerziell erfolgreich sein zu können. Bemerkenswerterweise wurde die Mehrzahl der Projekte in wirtschaftlichen Krisenzeiten angeregt und verfolgt, in denen sich die Initiatoren "ein exklusives Nachrichtenmanagement" (326) sichern wollten.
Im zweiten Teil der Studie untersucht Wobring die großräumige Vernetzung im halben Jahrhundert zwischen der Verlegung der ersten Seekabel in den 1860er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg. Unter britischer Dominanz und gestützt auf die technische Innovation des Duplex-Verfahrens, das das gleichzeitige Telegrafieren in beide Richtungen erlaubte, entstand ein drahtgebundenes Weltnetz. Die Rolle des Staates wurde weitgehend auf die rechtliche Rahmenregulierung reduziert. Die Dynamik des Netzausbaus resultierte aus der Industrialisierung und der weltwirtschaftlichen Integration. Während sich im nordatlantischen Vernetzungsraum nach heftigen Verteilungskämpfen ab Mitte der 1890er-Jahre ein duopoles Kartellsystem herausbildete, trieben britische Interessen und die Konjunkturen des Kapitalexports der britischen Wirtschaft die kommunikationstechnische Anbindung Indiens an den europäischen Wirtschaftsraum voran.
Die Hochindustrialisierung bis zum Ersten Weltkrieg ist von der historischen Forschung der letzten Jahre als eine Phase interpretiert worden, in der sich unter den Bedingungen wirtschaftlicher Liberalisierung ein Globalisierungsschub vollzog. Wobrings Arbeit stützt diese Interpretation, indem sie die engen Wechselwirkungen zwischen dem Auf- und Ausbau großräumiger Telegrafennetze und der Dynamisierung weltwirtschaftlicher Integration in dieser Phase aufzeigt. Sein Versuch, die telekommunikationstechnische Globalisierung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzuverlegen, indem Kontinuitäten zwischen erster und zweiter Jahrhunderthälfte betont werden, überzeugt dagegen nicht. Macht man sich seine zweite Hauptthese zu Eigen, dass die Entfaltung der Telegrafennetze von den Nutzern und damit von der Nachfrage der Wirtschaft "gesteuert" wurde, so zeigt sich, dass in der ersten Jahrhunderthälfte die erfolgreichen Projekte noch regionalräumlich und damit gerade nicht "global" ausgelegt waren. Hier schlägt besonders negativ zu Buche, dass Wobring seine erkenntnisleitenden Begriffe wie "Globalisierung", "Netzwerk" und "Steuerung" nicht präzise definiert, sondern unter der Vorgabe, pragmatisch vorgehen zu wollen, schwammig als "Arbeitsbegriffe" (13) verwendet. Der historischen Globalisierungsforschung, der nicht immer zu Unrecht theoretische Unschärfe und methodische Beliebigkeit vorgeworfen wird, ist mit so viel Pragmatik wenig geholfen.
Insgesamt aber gilt es festzuhalten, dass Wobring eine wichtige Studie zur Entfaltung der Telegrafie als großtechnisches System im langen 19. Jahrhundert vorgelegt hat, das sich nach anfänglicher Staatsdominanz im Wesentlichen entlang den Konjunkturen wirtschaftlicher Nachfrage entwickelte und die weltwirtschaftliche Integration beförderte. Vom Verlag als "Europäische Hochschulschrift" ausgewiesen, ist das Buch in der Tat eine typische Hochschulschrift. Eine holprige Sprache und überfrachtete Grafiken halten das Lesevergnügen in engen Grenzen.
Anmerkung:
[1] Siehe bes. Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003 (rezensiert von Daniel Maul in sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 http://www.sehepunkte.de/2003/12/4078.html). I. Europäischer Kongress für Welt- und Globalgeschichte vom 22. - 25. September 2005 am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig: http://www.uni-leipzig.de/zhs/ekwg/.
Helmuth Trischler