Kurt Andermann (Hg.): Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz (= Kraichtaler Kolloquien; Bd. 4), Epfendorf: bibliotheca academica 2004, 198 S., 1 Farbtafel, 8 Abb., ISBN 978-3-928471-57-2, EUR 29,00
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In zahlreichen Ausstellungen und Publikationen wurde in den letzten beiden Jahren der Säkularisation von 1802/1803 gedacht. Zumeist standen dabei das Ereignis selbst und seine Folgen im Mittelpunkt; die Objekte der Säkularisation - die geistlichen Staaten, die Klöster und Stifte - wurden eher am Rande thematisiert. Auf diesen Umstand verweist auch Kurt Andermann in seinem Vorwort (7) und begründet damit zugleich die Publikation des vorliegenden Bandes, der die Beiträge des vierten Kraichtaler Kolloquiums vom 26. bis 28. April 2002 dokumentiert.
Der Untertitel "Versuch einer Bilanz" präzisiert den Anspruch dahingehend, dass es nicht darum gehen soll, neue Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern gesicherte Erkenntnisse zusammenzufassen. Daneben formuliert der Herausgeber ein zweites Anliegen des Bandes: Angestrebt wird eine Revision des vorherrschend negativen Bildes der geistlichen Staaten. Darin sind ihm - um es vorwegzunehmen - die Autoren mit einer Ausnahme (Duchhardt) auch durchweg gefolgt.
Der Band vereinigt acht Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten geistlicher Staatlichkeit, wobei die Beispiele vorwiegend dem süddeutschen Bereich entstammen. Die Auswahl der Beiträge spiegelt die bisherigen Schwerpunkte der Forschung wider. Nicht zufällig gelten zwei Aufsätze der Kunst in den geistlichen Staaten. Dagegen gibt es keinen Beitrag, der sich mit der Reichs- oder "Außen"politik oder mit dem Militär befasst; auch die genuin geistliche Seite der geistlichen Staaten wird kaum beleuchtet.
Ulrich Andermann betont in seinem Überblick über die "Säkularisationen vor der Säkularisation" die Singularität des Vorganges von 1802/03, der eben nicht die radikalere Variante eines bereits bekannten Phänomens gewesen sei (ähnlich auch Walther, 164). 1802/1803 sei es vielmehr um eine Auseinandersetzung zwischen Kirche und weltlichem Staat gegangen, während die Säkularisationen bis dahin eher Folge des Kampfes zwischen den Konfessionen gewesen seien.
Der Beitrag "Die geistlichen Staaten im Spiegel der Historiographie" von Sabine Holtz bietet keinen üblichen Forschungsüberblick, sondern analysiert das Bild, das in den führenden deutschen Handbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts von den geistlichen Staaten gezeichnet wurde. Dieser an sich sehr reizvolle Ansatz kann allerdings in der Durchführung nicht völlig überzeugen. Auf Kurzbiografien der jeweiligen Historiker, über deren Sinn man bei Männern wie Leopold von Ranke und Heinrich von Treitschke durchaus streiten kann, folgt in einem zweiten Durchgang ein Referat der einschlägigen Passagen und dann erst die Analyse. Problematischer erweist sich die Vorentscheidung, nicht Handbücher zur Endphase des Alten Reiches als Grundlage der Analyse heranzuziehen, sondern Handbücher zum 19. Jahrhundert, das heißt konkret zur Säkularisation, und dann von der (häufig sehr knappen) Beurteilung der Säkularisation auf die Beurteilung der geistlichen Staaten zu schließen. Die Ergebnisse geraten deshalb etwas spekulativ. Gerade bei einem Autor wie Max Braubach erscheint es jedoch wenig sinnvoll, seine Beurteilung der geistlichen Staaten aus seinem Beitrag "Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß" im "Gebhardt" zu erschließen, und so zu tun, als ob er sich nicht in zahlreichen anderen Publikationen zu den geistlichen Staaten und Fürsten geäußert hätte.
Zwei Autoren widmen sich dem Beitrag der geistlichen Staaten zur Kunst. Karl Murks "Kulturgeschichtliche Miniaturen aus geistlichen Staaten" konzentrieren sich auf die Bereiche Hof, Bibliotheken und Musik. Sie erschöpfen sich freilich in einer Aneinanderreihung längst bekannter Beispiele, denen keine weitergehende Fragestellung zu Grunde liegt, wohl aber das Anliegen, die hoch stehende künstlerische Produktion in den geistlichen Staaten in Erinnerung zu rufen, um so zu dem Urteil zu gelangen, dass die Säkularisation eine "Sünde" (81) gewesen sei. Übrigens beschränkt sich Murk ebenso wenig wie manche andere Autoren auf die geistlichen Staaten, sondern bezieht die landsässigen Klöster und Stifte mit ein.
Auch Erich Schneider wählt für seinen Aufsatz "Mit meinem Bauwesen und Meubliren avencire zimblich" einen durchaus geläufigen Schwerpunkt, nämlich die Bautätigkeit der Schönborn. Denn selbstverständlich wird nicht, wie der Untertitel "Die kunstgeschichtliche Leistung der geistlichen Staaten" angibt, deren Beitrag zur Kunstgeschichte, sondern zur Kunst der Zeit thematisiert. Die Inszenierung der "gloire" der geistlichen Fürstentümer, wie sie beispielhaft in Würzburg stattfand, interpretiert Schneider als Reaktion auf die allgegenwärtigen Säkularisationspläne. Im "Bauwurm" der Geistlichen sieht er nicht Verschwendung und Maßlosigkeit, sondern einen Beitrag zur Förderung der Wirtschaft, weist aber auch darauf hin, dass manches Kloster damit seine Finanzen ruiniert habe. Schneider lässt diesen Widerspruch unkommentiert, sodass dem mit der Materie nicht ganz so vertrauten Leser verborgen bleibt, dass es sich hier um in der Forschung durchaus kontrovers diskutierte Fragen handelt, die zudem in das Zentrum der Frage nach dem Proprium der geistlichen Staaten und dem Selbstverständnis ihrer Fürsten zielen.
Wolfgang Zimmermann geht in seinem Beitrag "Christliche Caritas und staatliche Wohlfahrt" von der Beobachtung der aufgeklärten Schriftsteller aus, dass die Vielzahl der Bettler und Armen ein Signum der geistlichen Staaten sei und mithin ein Indiz für deren Rückständigkeit. Diese Annahme erscheint ihm aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen gebe es keine tragfähigen Zahlen über die tatsächlich größere Verbreitung von Armut und Bettel in den katholischen und mehr noch in den geistlichen Staaten. Zum anderen sei insbesondere der Bettel nicht eine Folge schlechter, also rückständiger Wirtschaftspolitik, sondern im Zusammenhang mit der Einstellung der katholischen Bevölkerung zur Armut zu sehen. Infolge der drastischen Zunahme der Armut im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfuhr die Armenpolitik der geistlichen Staaten dann freilich eine grundlegende Änderung. Die nun ergriffenen Maßnahmen zu einer Reform des Armenwesens bewegten sich ganz im Rahmen des auch andernorts Üblichen, befanden sich insofern ganz auf der Höhe der Zeit.
Diese Konkurrenzfähigkeit der geistlichen Staaten betont auch Uwe Zuber in seinem Beitrag über "Aspekte moderner Staatsbildung in geistlichen Territorien". Dabei hebt er sowohl die Gemeinsamkeiten mit den weltlichen Staaten als auch die Unterschiede hervor, die er unter anderem darin sieht, dass die Oberhoheit des Reiches und die Kurie den geistlichen Staaten Grenzen setzten, die den Wandel behindert hätten (135). In Bezug auf das Reich leuchtet es allerdings nicht ein, weshalb dies ein Spezifikum geistlicher Staaten sein soll, hinsichtlich der Kurie hätte man sich nähere Erläuterungen gewünscht. Überhaupt enthält die relativ abstrakte Darstellung Zubers zahlreiche weitere interessante Bemerkungen dieser Art, die zu Nachfragen und Forschungen einladen. Insgesamt betont Zuber für alle Bereiche die Zweischneidigkeit der Reformen in den geistlichen Staaten: In dem Maße, in dem sie Reformen durchführten und sich damit dem Geist der Aufklärung öffneten, gefährdeten sie auf lange Sicht ihre Legitimationsgrundlage.
Explizit mit der Aufklärung beschäftigt sich Heinz Duchhardt (" Die geistlichen Staaten und die Aufklärung"), kommt dabei freilich zu einer wesentlich kritischeren Einschätzung als Zuber. Anhand der Entwicklung der Universitäten und der aufgeklärten Sozietäten konstatiert er zwar gewisse Fortschritte, hebt aber hervor, dass diese doch weit von den Standards der Zeit, das heißt konkret der protestantischen Territorien, entfernt gewesen seien. Ein ereignisgeschichtlicher Überblick von Gerrit Walther über "Das Ende: Die Säkularisation von 1802/03" beschließt den Band.
Der Band repräsentiert die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz, das negative Bild der geistlichen Staaten zu revidieren. Allerdings entgeht er nicht ganz der Gefahr, in das andere Extrem zu verfallen, ohne diese Neubewertung jedoch mit neuen Forschungen zu fundieren. In welche Richtung diese Forschungen gehen könnten, scheint immerhin an einigen Stellen auf, so wenn Uwe Zuber - in Bezug auf die Kirchenpolitik - feststellt, dass die geistlichen Staaten eine "christliche Antwort auf die Fragen der Zeit" versucht hätten (150). Das heißt, zu fragen wäre nach der Eigenart geistlicher Staatlichkeit jenseits einer vorgängigen Orientierung an Kategorien wie Moderne und Rückständigkeit. Arbeiten, die - in bester Absicht - die geistlichen Staaten daraufhin abklopfen, ob sie, wie es im Sammelband immer wieder heißt, "auf der Höhe der Zeit" waren oder den "Standards der Zeit" entsprachen, nehmen selbst bei positiver Antwort ihre Untersuchungsgegenstände nicht völlig ernst, da sie sie nur auf ihre Konkurrenzfähigkeit mit den damit doch wieder zum Maßstab erhobenen weltlichen, häufig protestantischen Staaten hin bewerten. Möglicherweise hat aber eine Wirtschaftspolitik, die stärker die Landwirtschaft berücksichtigt, auch etwas mit einem anderen, ganzheitlicheren Menschenbild und einem anderen Verhältnis zur Schöpfung zu tun. Zudem mag die mangelnde Akzeptanz, auf die ein Krieg führender Bischof traf, geistlichen Fürsten von vornherein auf andere Mittel der Außenpolitik verwiesen haben; die häufig so vehement kritisierte Subsidienpolitik bedeutete dann eine höchst rationale Lösung angesichts der anderen Voraussetzungen geistlicher Territorien und wäre insofern neu und ohne moralisierende Vorwürfe zu untersuchen. Am Ende könnte dann weniger eine "intendierte Rückständigkeit" (Peter Hersche) als vielmehr eine "intendierte Andersartigkeit" stehen.
Bettina Braun