Dieter Daniels: Vom Readymade zum Cyberspace. Kunst / Medien Interferenzen (= Materialien zur Moderne), Ostfildern: Hatje Cantz 2003, 128 S., 63 Abb., ISBN 978-3-7757-1040-4, EUR 25,00
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"Sie kennen genau meine Meinung hinsichtlich der Fotografie. Ich würde es gerne sehen, wenn sie die Leute zur Verachtung der Malerei bringt, bis dann etwas anderes die Fotografie unerträglich macht." [1] 1922 haben Alfred Stieglitz und Paul Strand in der Zeitschrift MSS (Manuscripts) die Frage gestellt, ob Fotografie die Bedeutung eines Kunstwerks habe. Marcel Duchamps Antwort ist nicht nur Provokation, sondern weist auch auf seinen Einfluss auf die Medienkunst hin.
Dieter Daniels, Professor für Kunstgeschichte und Medientheorie an der HGB Leipzig, verbindet in dem in vier Abschnitte gegliederten Buch seine Forschungsschwerpunkte Medienkunst und Duchamp. Alle vier Kapitel basieren auf bereits publizierten Texten über die gegenseitige Beeinflussung von Kunst und Medien und lassen sich unabhängig voneinander lesen. Zwar finden sich innerhalb der einzelnen Kapitel Verweise; es wird jedoch kein Gedanke von einem Kapitel zum nächsten aufgebaut und weitergetragen. Marcel Duchamp in seiner Eigenschaft als Künstler und begnadeter Schachspieler ist Referenzpunkt für Daniels Thesen und stellt den roten Faden dar, der den Leser durch die vier Aufsätze leitet.
Im ersten Kapitel befasst sich Daniels mit der weit reichenden Parallelität von Kunst und Medien. So erörtert er, dass der in der Avantgarde verbreitete Wille zur ständigen Innovation letztendlich nur durch die Nutzung neuer, technischer Medien erreicht werden kann. Grundlegendste Eigenschaft der so entstehenden intermedialen Kunstwerke, zu denen Daniels neben Walther Ruttmanns abstrakten Filmen oder Nam June Paiks Arbeit mit modifizierten Fernsehern auch Duchamps optische Geräte zählt, ist, dass sie nicht aus einer Selbstsicherheit der Künstler entstehen. Die Irritation und Infragestellung, die die Kunst durch neue technische Bildproduktionen erfährt, macht Künstler auch offen für die Interferenz der Gattungen.
Dass sowohl Duchamps Readymade als auch Endemols "Big Brother" dem Betrachter nur ein Realitätssurrogat zeigen, belegt Daniels in "Big Brother Readymade", dem zweite Kapitel, auf anschauliche Weise. Duchamp wählt einen Gegenstand; Endemol wählt eine Kameraperspektive und einen Zeitpunkt aus. Durch diese Auswahl verlieren "Big Brother" und Readymade sämtliche Merkmale des Realen. Um zu diesem Schluss zu kommen, untersucht Daniels Arbeiten von Valie Export und Dan Graham; vergleicht "Big Brother" mit Foucaults Untersuchungen zum Panopticon und verweist auf die "Jennycam" als ideales Beispiel für ein "human Readymade", bei dem das Readymade Jennifer Ringley nicht um ihre Vorläufer aus dem Nouveau Réalisme und der Pop Art weiß.
Die Prinzipien der Kunstrezeption von der Partizipation zur Interaktion verfolgt der dritte Teil. Dabei stellt Daniels zunächst Berthold Brecht Alan Turing gegenüber, die die ideologische beziehungsweise technologische Grundlage für Interaktivität geschaffen haben, um dann auf John Cage und Bill Gates zu sprechen zu kommen, die für ihn in idealer Weise die Prinzipien eines offenen beziehungsweise eines geschlossenen Systems vertreten. So gibt Cage in seinen Kompositionen "ein vom jeweiligen Ausführenden zu interpretierendes Feld von Möglichkeiten vor" [2], während bei Gates in einer "top down"-Struktur alle Nutzer des Programms nur innerhalb der von der Industrie vorgegebenen Interaktionsmuster handeln können. Die Hoffnung, die Brecht, Cage aber auch Paik oder Vostell hatten, Medien könnten die Tendenz zur passiven Rezeption aufbrechen, werden enttäuscht. "Die Wirkung der Medien lässt sich auf Dauer und in großem Maßstab nicht umkehren". [3] Der Effekt der Massenmedien bleibt, so Daniels, das passive Konsumieren.
"Duchamp: Interface: Turing", das letzten Kapitel des Buches, unterteilt Daniels in vier Abschnitte, die durch den Begriff des Interface verbunden werden. So stellt der Autor zunächst fest, dass der Begriff Interface in Duchamps Werk auf das Schachbrett als Schnittstelle zwischen zwei Spielern ebenso zutrifft wie auf das Kunstwerk als Interface zwischen dem Intellekt des Künstlers und dem des Betrachters. Im zweiten Abschnitt sucht Daniels Parallelen zwischen Turing und Duchamp und kommt zu dem Schluss, dass Duchamps "grüne Schachtel" und "großes Glas" zwei Teile eines Werks sind. Sie sind Sprache und Maschine von "La mariée mise à nu par ses célibataires, même". Ebenso funktioniert auch Turings "universelle Maschine" nur in der Verbindung von Programm und Computer. "La mariée mise à nu par ses célibataires, même" und die "universelle Maschine" zeigen die Verbindung von Mensch, Programm / Sprache und Maschine. Um eine Analogie heutiger Medientechniken zum Werk Duchamps geht es im dritten Teil des Kapitels. Zum Abschluss versucht Daniels eine Verbindung der Entwürfe Duchamps und Turings mit der heutigen Medienpraxis herzustellen. Eine Verschmelzung dieser beiden Modelle würde laut Daniels eine "universellen Junggesellenmaschine" hervorbringen.
Das vierte Kapitel, in dem Daniels "die Reichweite der hypothetischen Begegnung zweier Denkmodelle (...) mit einer experimentellen Methode" [4] auslotet, fordert von dem Leser, sich auf dieses Experiment einzulassen. Hier soll nichts bewiesen, sondern Gedanken sollen verknüpft werden, um so zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. So lädt auch das letzte Kapitel, wie alle vorangegangenen, den Leser ein, Daniels Gedanken aufzugreifen und fortzuführen. Wie der Autor dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Kunst und Technik verknüpft, ist fast immer neu, innovativ und spannend. So liefert "Vom Readymade zum Cyberspace" dem Leser nicht nur spannende Fakten, sondern auch wertvolle Impulse für eigene, neue Gedanken.
Anmerkungen:
[1] Duchamp, Marcel: Antwort auf die Umfrage von Alfred Stieglitz und Paul Strand "Stimmen Sie unserer Meinung bei, daß die Fotografie in den letzten Jahren eine neue Bedeutung gewonnen hat? Das heißt: daß durch sie etwas hervorgebracht wird, das so bedeutungsvoll ist, wie das, was Kunst genannt wurde." in: MSS (Manuscripts), 1922, H.4, New York, 2.
[2] Daniels, Dieter: Vom Readymade zu Cyberspace. Kunst/ Medien Interferenzen. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2003, 62.
[3] Daniels, 2003, 86.
[4] Daniels, 2003, 93.
Carolin Artz