Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Aus dem Russischen von Hilde und Helmut Ettinger (= Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts; Bd. 1), Berlin: Aufbau-Verlag 2002, 488 S., 41 Abb., ISBN 978-3-351-02539-7, EUR 25,00
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Das Buch des Publizisten und Historikers Lew Besymenski ist eine Sammlung dokumentarischer Essays, die einzelne Episoden der sowjetisch-deutschen Beziehungen vor allem in den Jahren 1933 - 1941 rekonstruieren. Dem Genre nach sind es eher journalistische Untersuchungen, in deren Zentrum diejenigen Handlungsmotive Stalins stehen, denen in seiner Außenpolitik gegenüber Deutschland Schlüsselfunktionen zukamen. Das Buch präsentiert in Auszügen oder vollständiger Wiedergabe eine Fülle dem westlichen Leser kaum oder überhaupt nicht bekannter Dokumente aus russischen Archiven, unter anderen aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, aus dem Russischen Staatlichen Archiv für Soziale und Politische Geschichte, dem Archiv des Außenministeriums und einigen anderen. Und darin liegt der größte Wert der Arbeit von Besymenski.
Der Autor zeigt, wie bedeutsam die Rolle Stalins nicht nur bei der Bestimmung des außenpolitischen Kurses der UdSSR im allgemeinen und der einzelnen diplomatischen Schritte im besonderen war, sondern auch bei der Entscheidungsbildung in ganz konkreten Fragen und der Vorbereitung einzelner Dokumente. Die von ihm angeführten Beispiele von Stalins Arbeit an den sowjetischen und deutschen Entwürfen des Nichtangriffspaktes (218-224) erlauben nicht nur, die Gedankengänge des sowjetischen Diktators besser zu verstehen, sondern widerlegen auch Mutmaßungen einiger russischer Historiker, welche versuchen, einige Formulierungen dieses Vertrages damit zu erklären, dass es der sowjetischen Seite an Zeit gemangelt habe, Gegenvorschläge einzubringen. Schwieriger ist es, die nicht immer begründete und korrekte Interpretation der publizierten Dokumente durch den Autor zu bewerten. Dazu gehört vor allem die Charakteristik des außenpolitischen Kurses der Sowjetunion gegenüber Deutschland am Vorabend und im Laufe der ersten 22 Monate des Zweiten Weltkrieges. Nach der außenpolitischen Niederlage infolge des Münchener Abkommens, an dem die Sowjetunion nicht beteiligt war, konnte Stalin - "diesem scharfsinnigen Beobachter", so Besymenski [1], "[...] ein Paradox von München nicht entgangen sein: Beschwichtigungspolitik zeigte unter bestimmten Bedingungen Wirkung, wenn es darum ging, einen Krieg hinauszuzögern" (220). Den darauf folgenden Aktivitäten des Kremls in der internationalen Arena sei daher die strategische Konzeption der "Beschwichtigung" Hitlers zu Grunde gelegen, die bis 22. Juni 1941 andauerte (154, 340). Die von Besymenski erstmalig benutzten Dokumente [Entscheidung des Politbüros von 21. Januar 1939 über die mit einem deutschen Kredit finanzierte Bestellung von Anlagen für Rüstungsbetriebe in Deutschland (183), vor allem aber die Forderung Stalins vom 21. Mai 1939, ihm alle in Beziehung zum Berliner Vertrag von 1926 und seine Prolongation stehenden Dokumente bereitzustellen (215)], ganz zu schweigen von anderen schon bekannten Fakten (Rede von Stalin auf dem XVIII. Parteitag, Litvinovs Enthebung vom Amt des Volkskommissars des Äußeren], zeugen eindeutig davon, dass die Initiative zur Annäherung zwischen den beiden Ländern bei Moskau lag, auch wenn Besymenski das Gegenteil behauptet (213, 299). Doch das Bestreben des Kremls sich Deutschland anzunähern, das auch nach Hitlers Machtübernahme nie aufhörte und sich besonders Ende 1938 und Anfang 1939 intensivierte, war keineswegs identisch mit der Politik der "Beschwichtigung" Hitlers, die seit Ende 1940 von Stalin betrieben wurde. Diese Aufgabe stellte sich erst, als Molotov bei seinem Besuch in Berlin scheiterte, Hitler zu Zugeständnissen zu bewegen.
Besymenski ist Stalins Persönlichkeit gegenüber generell kritisch eingestellt, doch ist er nicht immer konsequent in der Bewertung von Stalins Politik. So ist er der Meinung, dass am 23 August 1939 "[...] die Sowjetunion daher mit Deutschland einen solchen Pakt schließen [konnte], ohne sich der direkten Mittäterschaft schuldig zu machen." (246) Diese Behauptung steht im offensichtlichen Widerspruch zum Wortlaut des sowjetisch-polnischen Nichtangriffspaktes (1932), der die UdSSR und Polen verpflichtete "[...] keinerlei Anteil an irgendwelchen Übereinkommen zu nehmen, die [...] offensichtlich feindselig gegen die andere Partei gerichtet sind." Mit dem Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Deutschland machte sich die Sowjetunion einer groben Verletzung der polnisch- sowjetischen Verträge schuldig, da das Molotov-Ribbentrop-Abkommen in seinem öffentlich bekannt gemachten Teil de jure eine Übereinkunft über die unbegrenzte Neutralität jeder der beiden Seiten gegenüber den Handlungen der anderen darstellte, das heißt dem Aggressor gegen Polen volle Handlungsfreiheit bot.
Die Ergebnisse der Zusammenarbeit der zwei totalitären Regime im ersten Jahr zusammenfassend - ohne allerdings deren Inhalt eingehender zu würdigen -, vermerkt Besymenski sowohl ihre für die UdSSR positiven Seiten (vom Gesichtspunkt der sowjetischen Führung), als auch die negativen (von einem breiter gefassten Blickwinkel aus) (300-301). Dabei vermisst man seltsamerweise unter den negativen Faktoren den wichtigsten - die Zerschlagung Frankreichs, die die geostrategische Situation auf dem europäischen Kontinent grundlegend veränderte. Überhaupt ist die internationale Politik von Stalins Hauptgegner Hitler im Buch von Besymenski zweitrangig, und das oft sehr zu Unrecht: denn eben diese Politik hat die Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Expansion in den Jahren 1939-1940 bestimmt.
Beim Versuch, die Hintergründe der strategischen Fehlkalkulationen Stalins in Bezug auf Hitlers Vorhaben zu verstehen, welche in der Tragödie von 1941 endeten, zieht Besymenski widersprüchliche Schlüsse. Einerseits behauptet er, dass die Informationen der sowjetischen Geheimdienste über den geplanten Angriff auf die UdSSR so eindeutig waren, "dass man nur von einem bewussten Ignorieren vitaler Informationen sprechen kann." (415) Andererseits sieht er die Gründe dafür weniger "in dem besonders diktatorischen Denkens Stalins", in Besymenskis Augen haben sie mit einem Problem zu tun, "das jedem diktatorischen System anhaftet" (372), womit er die persönliche Verantwortung des "Vožd'" (russisch für "Führer") nivelliert. Besymenski ist der Meinung, dass Stalin sich in der Annahme irrte, dass es ihm wie 1939 gelingen würde, "Hitler seinen Willen aufzuzwingen." (434) Dieser Behauptung kann man kaum zustimmen: Im August 1939 erreichte Hitler ein Abkommen mit der UdSSR, das er so dringend wie die Luft zum Atmen brauchte, und er war bereit, Stalin Zugeständnisse zu machen, allerdings auf Kosten anderer Länder. Bekommen hat er durch den sowjetisch-deutschen Pakt alles, was er in jenem Moment wirklich brauchte - die aktive Unterstützung seiner aggressiven Politik seitens der UdSSR und das Wichtigste: die Möglichkeit der Kriegführung an nur einer Front im Westen. Tatsächlich, so bemerkt Besymenski, verkalkulierte sich nicht nur Stalin, sondern auch Hitler, "der glaubte, die Sowjetunion unterwerfen zu können"(458).
Allerdings ist diese Feststellung kaum geeignet, dem Verständnis der Beziehungen zwischen den zwei diktatorischen Regimen etwas Neues hinzuzufügen. Ihre Entwicklung vollzog sich in der Regel nach einem äußerst ideologischen Szenario, sie war vor allem von Hitlers Seite zuweilen von starkem Pragmatismus geprägt, was Stalin nie begriff. Letzten Endes resultierten daraus jene fatalen politischen und militärischen Fehler, die im Kreml insbesondere in den Jahren 1939-1941 begangen wurden. In diesem Zusammenhang kann man den Titel der deutschen Ausgabe des Buches von Besymenski "Das Pokerspiel der Diktatoren" kaum als gelungen bezeichnen. Es war kein Pokerspiel, das professionelles Können erfordert, insbesondere psychologisches Gespür hinsichtlich des Partners, sondern eher eine Partie Dame, in welcher einem der Spieler nach dem Vertrag von 23. August 1939 nur bestimmte Züge erlaubt waren.
Die deutsche Ausgabe des Buches von Besymenski unterscheidet sich von der russischen sowohl inhaltlich als auch nach der Struktur der einzelnen Kapitel. Manche Fragen sind in der deutschen Variante ausführlicher behandelt (zum Beispiel das Kapitel "Ein Tagebuch für Stalin"), die anderen wiederum in der russischen (Kapitel "Das Tagebuch von Lord Halifax"). Der größte Vorteil der deutschen Ausgabe besteht allerdings darin, dass sie über einen wissenschaftlichen Apparat verfügt, (der in der russischen ganz fehlt), obwohl er etwas veraltet ist (ein Teil der Archivdokumente, auf die sich der Autor bezieht, sind bereits veröffentlicht) und ein Quellen- und Literaturverzeichnis fehlt.
Beim Lesen des Buches "Stalin und Hitler" wird man das Gefühl nicht los, dass dem Historiker Besymenski immer wieder der Journalist Besymenski in die Quere kommt. Die wichtigen stehen zuweilen im Widerspruch zu den keineswegs strengen, manchmal widersprüchlichen Schlussfolgerungen und den vielen faktischen Ungenauigkeiten (auch in der Übersetzung) des Journalisten, dem es vor allem darum geht, das veröffentlichte Material spannend zu präsentieren.
Anmerkung:
[1] In der russischen Ausgabe: "dem scharfsinnigen Politiker" Lev Bezymenskij: Gitler i Stalin pered schvatkoj. Moskva 2000, 169.
Aus dem Russischen von Yuliya von Saal
Sergej Z. Sluč