Julian Treuherz / Elizabeth Prettejohn / Edwin Becker: Dante Gabriel Rossetti. Ausstellungskatalog Liverpool, Walker Art Gallery, 16.10.2003-18.1.2004; Amsterdam, Van Gogh Museum, 27.2.-6.6.2004, Zwolle: Waanders Uitgevers 2003, 248 S., 250 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-90-400-8865-0, EUR 39,50
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Bereits zum zweiten Mal haben sich die Walker Art Gallery in Liverpool und das Amsterdamer Van Gogh Museum zusammengetan, um das Werk eines englischen Malers der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spektakulär der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nach der vom gleichen Team betreuten Ausstellung zu Sir Lawrence Alma-Tadema im Jahre 1996-97 [1], folgt nun eine beeindruckende Schau zu seinem Zeitgenossen, dem präraffaelitischen Maler Dante Gabriel Rossetti. Der imposante Katalog, der diese Retrospektive begleitet - im Übrigen die erste umfassende Einzelausstellung seit der Schau in London und Birmingham 1973 [2] -, lässt kaum Wünsche offen. Zumal mit Julian Treuherz, Keeper of Art Galleries for National Museums in Liverpool, Elizabeth Prettejohn, Professorin für Kunst der Moderne an der Universität Plymouth sowie Edwin Becker vom Van Gogh Museum für die drei Aufsätze und 185 Katalogbeiträge ausnehmende Spezialisten zur viktorianischen Malerei gewonnen werden konnten.
Treuherz behandelt in seinem Aufsatz die frühen Jahre Rossettis und schlägt den Bogen von den autodidaktischen Anfängen des Malers, der sich an keine Lehrinstitution längerfristig binden wollte, bis hin zum Ende der 1850er-Jahre. Der Autor möchte die entweder auf das Spätwerk fixierte oder an der spektakulären Biografie Rossettis interessierte Forschung auf neue Fragen lenken. Es geht ihm vor allem darum, anhand des ersten Schaffensjahrzehnts des Malers zu verdeutlichen, dass dieses auch über die beiden im Rahmen der Präraffaelitischen Bruderschaft entstandenen, zur Genüge bekannten Werke hinausgehend "original, innovative and avantgarde" war (14). Und in der Tat gibt es hier abseits der bekannten Pfade einiges zu entdecken. Beispielsweise, dass Rossetti neben seiner Begeisterung für Dante und Mallory, einer der ersten war, der die Gedichte Poes als Anregungen heranzog: Zum "Raben" fertigte er beispielsweise bereits 1846 - ein Jahr nach der Veröffentlichung dieses Werkes - eine erste Zeichnung an (14, 16). Weniger ergiebig ist die Schilderung von Rossettis Ausbildung, der Formierung der Bruderschaft mit Rossetti, Hunt und Millais an der Spitze, die Behandlung der ersten Hauptwerke vor 1850 und die Skizzierung einiger Themenfelder, wie der Frau, des Mittelalters oder Illustrationen nach Gedichten Tennysons. Hier ist wenig Neues zu erfahren, sodass der Leser Hinweise, wie die mit der "Verkündigung" von 1849 einsetzende Abwendung des Malers von naturalistischer Beobachtung und einer zentralperspektivischen Raumauffassung, schnell überlesen könnte. Jedoch gelingt es Treuherz an diesen Punkten überzeugend, die programmatische Abkehr Rossettis von einer klassisch-akademischen Ästhetik, seine symbolische Aufladung von Farben oder die Abwendung von althergebrachten Maltechniken zu charakterisieren. Dabei wird deutlich, dass gewisse Motive und Themen Rossetti Zeit seines Lebens beschäftigen - und dies betrifft eben nicht nur die Werke nach Dantes "Vita nuova".
Prettejohn behandelt in ihrem Beitrag die um 1860 einsetzende zweite Schaffensphase des Malers. Sie zeigt dessen formalästhetische Weiterentwicklung auf, die sich in einer Steigerung von Rhythmisierung, Chiasmus, Farbsymbolik und einem Verzicht auf räumliche Tiefenillusion äußert und zu einer Betonung der Fläche sowie einer "Ikonisierung" seiner Bilder führt. Neben dem Raum werden auch Zeit und Handlung zunehmend ausgeblendet. Gleichzeitig wird die Konzentration auf die Frau als Hauptmotiv thematisiert und kontextualisiert: zunächst anhand der hinter einer Brüstung erscheinenden Damen in der Tradition venezianischer Hochrenaissancemalerei, dann anhand der monumentalisierten michelangelesken Ganzfigurenporträts der letzten Jahre. Rossettis Modelle, Elizabeth Siddal, Annie Miller, Fanny Cornworth, Alexa Wilding und schließlich Jane Morris, spiegeln dabei nicht nur wechselnde erotische Idealbilder oder eine sich wandelnde Vorstellung von Schönheit: Die jeweils Gezeigte verkörpert für den Maler einen bestimmten Typus, bei dem entweder Geist oder Körper im Mittelpunkt stehen, bis diese zunächst dualistisch aufgefassten Prinzipien in den letzten Schaffensjahren in der Figur von Morris konvergieren. Angerissen wird auch ein außerordentlich interessanter Aspekt in Bezug auf die Titelgebung des Malers: Häufig - so Prettejohn - erhalten die Werke ihre Bezeichnung erst nachträglich; damit werde selbst bei literarischen Sujets der bisweilen immer noch betriebene Versuch einer Deutung als bloße Illustration fragwürdig. Stattdessen suche der Maler im Nachhinein "passende" Titel, die dann beim Betrachter eine Assoziations- und Imaginationskette in Gang setzten. Letztlich also sind solche Werke im Grunde themenlos und fallen somit auch durch das Raster der damaligen Gattungshierarchie. Überhaupt wird die Rezeption der schon von den Zeitgenossen als polyvalent empfundenen Werke bereits in der Produktion zu einem entscheidenden Faktor: "[...] the literary or poetic associations of the pictures, hinted in the titles, are flexible and allow the viewer to take a role in constructing their meanings [...]" (72). Ebenso interessant sind Einzelbeobachtungen, beispielsweise zur Bedeutung der Blumen bei Rossetti. Diese wurde schon von Hunt oder Ruskin als verstörend gekennzeichnet (76-78). Die häufig ambivalente Vermischung von Liebe, Tod, Sinnlichkeit und religiöser Ekstase, die Prettejohn klar umreißt, zeigt, dass hier eine Hinwendung zu einer "l'art pour l'art"-Ästhetik stattfindet. Diese war bahnbrechend für die Entwicklung der englischen Kunst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.
Edwin Becker gibt in seinem abschließenden Beitrag einen soliden Überblick der internationalen Rezeption Rossettis, vor allem in Frankreich, Belgien und im deutschsprachigen Raum. Dabei untersucht er einerseits die Wahrnehmung des Malers in der Kunstkritik und der Kunstgeschichte (Muther), andererseits geht er auf die künstlerische Beeinflussung von Denis, dem Kreis um Sâr Péladan, Khnopff, aber auch Stuck oder Klimt ein.
Auch der Katalogteil erfüllt alle Erwartungen. Anfangs ist der Leser irritiert über die wenig mehr als briefmarkengroßen, jedoch durchgehend farbigen Abbildungen. Schnell wird aber deutlich, dass mit wenigen Ausnahmen die Werke bereits innerhalb der Aufsätze in ganzformatigen, ausnehmend qualitätvollen Abbildungen präsentiert worden sind. So kommt der Bebilderung im Katalogteil lediglich eine erinnernde Funktion zu; auf die ganzseitige Abbildung wird jeweils verwiesen. Jeder Beitrag vermerkt einleitend die technischen Angaben, inklusive Signatur und Datierung oder Vermerke auf den Originalrahmen. Zudem wird jeweils der entsprechende Eintrag im Œuvrekatalog von Surtees angegeben. [3] Es folgt eine Besprechung von Entstehungskontext, Diskussion der literarischen Quellen (bei Gedichten Rossettis sind diese stets vollständig zitiert), Identifikation der Modelle, Kennzeichnung der Bedeutung im Werk des Malers und darüber hinaus, Verweise auf Literatur. Am Ende des Katalogs erscheinen einige Sektionen zu Objekten, die der Leser in Publikationen zu Malern des englischen Ästhetizismus oft schmerzlich vermisst: eine (kleine) Auswahl einiger der von Rossetti gestalteten Rahmen und Bucheinbände, Glasfenster für Morris, Marshall, Falkner & Co., Möbelentwürfe, ein Beitrag über Rossetti als Sammler, Schmuck und Porzellan aus seinem Besitz, welches teilweise in seinen Werken auftaucht. Der Katalog schließt mit einer tabellarischen Biografie des Künstlers, eine Bibliografie und ein benutzerfreundlicher Index runden die Publikation ab.
Hervorzuheben ist die durchgehend vorbildliche Verweisstruktur des Bandes: Werden illustrierte Werke in den Aufsätzen erwähnt, erscheint in Klammern nicht nur die Abbildungs-, sondern auch die Katalognummer, sind Bilder nicht abgebildet, wird auf die Nummer bei Surtees verwiesen, sind übergreifende Themenkomplexe angesprochen, werden alle Katalogeinträge aufgeführt, an denen diese Fragestellungen verfolgt werden.
Für einen Ausstellungskatalog jedenfalls wird hier Beeindruckendes geleistet: Obschon an keiner Stelle dieser Anspruch ausgesprochen wird, kommt der Band einem Œuvreverzeichnis nahe. Dies liegt natürlich auch daran, dass auf der Ausstellung weit mehr als nur alle wichtigen Werke des Künstlers präsentiert worden sind, selbst der monumentale Flügelaltar "The Seed of David" aus der Llandaff Cathedral in Cardiff, der kaum einmal ausgeliehen wird. Die Autoren haben es in beeindruckender Weise verstanden, diese Materialfülle in diesem konzisen, informativen und auf dem neuesten Forschungsstand befindlichen Buch zu bündeln. Dass viele Fragestellungen nur angerissen werden - so zur Funktion von Bildtiteln in diesen Jahren allgemein oder zu Rossettis Sammlern - ist bedauerlich. Angesichts des hier vorgelegten opus sollte man dies aber weniger als Kritik denn als Chance verstehen: Der Leser wird inspiriert, weiter nachzuforschen und einen vermeintlich vertrauten Maler neu zu entdecken.
Anmerkungen:
[1] Edwin Becker / Edward Morris / Elizabeth Prettejohn / Julian Treuherz (Hg.): Sir Lawrence Alma-Tadema. Ausst.-Kat. Liverpool, Walker Art Gallery; Amsterdam, Van Gogh Museum, 1996-97.
[2] Dante Gabriel Rossetti, Painter and Poet. Ausst.-Kat. London, Royal Academy of Arts; Birmingham, City Museum and Art Gallery, 1973.
[3] Virginia Surtees: The Paintings and Drawings of Dante Gabriel Rossetti (1828-1882). A Catalogue Raisonné. 2 Bde. Oxford 1971.
Ekaterini Kepetzis