Gonthier-Louis Fink / Andreas Klinger (Hgg.): Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800 (= Jenaer Beiträge zur Geschichte; Bd. 6), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 495 S., ISBN 978-3-631-39698-8, EUR 79,50
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Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ein Kolloquium zurück, das der Jenaer Sonderforschungsbereich "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" im Jahre 2001 veranstaltete. Thematisiert wird die in der Forschung seit etwa zwei Jahrzehnten besonders aktuelle Frage nationaler und kultureller Identitäten einer Generation um 1800, die Friedrich II., die Französische Revolution und die napoleonische Zeit erlebte und damit an all den Hoffnungen, Desillusionierungen und Neuorientierungen teilhatte, die für die Spätaufklärung und das frühe 19. Jahrhundert charakteristisch sind. Die Jahrhundertwende wird als Chiffre für einen historischen Umbruch erkannt, hingewiesen wird auf die von England ausgehende Industrialisierung und natürlich auf die Revolution in Frankreich, die ihre Folgewirkungen auch in Deutschland hatte und nachhaltig die Reformkonzeptionen der deutschen Aufklärung in Frage stellte.
Der im Zentrum des Bandes stehende Begriff der Identität wird als ambivalent begriffen, in zahlreichen der Aufsätze wird er diskutiert, doch kommen die Herausgeber in ihrem Vorwort zu der Feststellung, stets handele es sich "um das Verhältnis zwischen einem Objekt (Idee, Vorbild, Rollenbild, Glaubenssatz, Satzung eines Ordens usw.) und einem Subjekt (Individuum oder Gruppe), dem das Objekt vermittelt wird und das sich mit ihm identifizieren will, soll oder muß. Die Exklusivität dieser Verbindung wird zwar zuweilen gefordert, aber sie betrifft jeweils nur einen beschränkten Bereich, so daß auch dann noch Überlagerungen von verschiedenen individuellen und kollektiven Identitäten möglich sind. Spannungen sind in diesem Verhältnis nicht ausgeschlossen: Dies geschieht sowohl, wenn das einmal als verbindlich vorgegebene Objekt in Widerspruch zu einer sich wandelnden Umwelt gerät, als auch dann, wenn es sich anpaßt, während die Subjekte weiterhin beharrlich am alten Modell festhalten" (VIII).
Die Aufsätze des Bandes sind mit "Nationen, Kultur, Geschlecht und Institutionen" vier Rubriken zugeteilt, doch soll damit lediglich der vorwiegende Akzent der Darstellungen bezeichnet werden, da die individuelle Identität in der Praxis weit komplexer als alle groben Raster und fast immer mit mehreren sozialen Zuordnungen verbunden sei. Spannend thematisiert Gonthier-Louis Fink - im ersten Aufsatz der mit "Nation" überschriebenen Abteilung des Buches - dies am Beispiel der französischen nationalen Identität für die Zeit des Umbruches von 1750 bis 1794 zwischen Ancien Régime und Thermidor. Der Anspruch, die Nation könne nur aus der Gesamtheit der Bürger bestehen, wurde mit Pathos verkündet, in der Praxis jedoch geriet die Mehrheit des Volkes schnell in Vergessenheit. Überblickend resümiert Fink, dass die jeweils prätendierte nationale Identität stets nur als pars pro toto Geltung beanspruchen konnte: "Muß sich da nicht der Schluß aufdrängen, daß trotz der gegenteiligen Prätentionen Frankreich in dieser Zeit weder einen einheitlichen Nationalcharakter noch eine nationale Identität besessen habe, in der die ganze Nation sich hätte wiedererkennen können? Es wies nur kollektive Identitäten auf, die vorgaben, national zu sein" (32).
Anregend wären hier - zumal angesichts des Tagungsortes Schloss Klingenthal und der Mitveranstaltung durch die Baseler Goethe-Stiftung - ähnliche Studien zum Elsass und insbesondere zur Schweiz gewesen, in der die multilinguale Bevölkerungszusammensetzung mit der daraus folgenden Bindung an unterschiedliche Nachbarnationen und die Helvetische Revolution interessante Sonderentwicklungen bereithalten. Die folgenden Beiträge beschäftigen sich dann mit der nationalen Identität im Reich: Georg Schmidt handelt zu "Staat, Nation und Universalismus: Weimar-Jena als Zentrum deutscher Identitätssuche im späten Alten Reich" und Klaus Ries zur Fiktion des deutschen Nationalstaates, die mit den erkenntnisleitenden Fragestellungen behandelt wird, wann in Deutschland zum ersten Mal auf breiter Basis nationalstaatliche Ideen auftauchten und ob diese bereits Wirkung in der Praxis hatten oder ob sie bloße Gedankenkonstrukte einer schmalen Intelligenzschicht waren. Friedrich Schlegels Zeitschrift "Europa" wird von Ruth Florack unter anderem mit der Frage untersucht, ob hier bereits übernationale Identitäten zu finden seien.
Auffällig ist die starke Konzentration auf die Heroen der Literaturgeschichtsschreibung, was selbst für den Beitrag von Albert Meier über den inzwischen kanonisierten Johann Gottfried Seume und dessen "paradoxer 'Deutschheit'" gilt. Dagegen ist prinzipiell natürlich wenig zu sagen, zumal wenn mit neuen Fragen operiert wird, doch fehlt der Blick auf zehntausende "normaler" Gebildeter, die das kulturelle Klima in Deutschland mit-, vermutlich sogar vorwiegend prägten, von den anderen Bevölkerungsschichten ganz zu schweigen. Entsprechende Studien dominieren auch die beiden einleitenden Aufsätze unter der Rubrik "Kultur", den begriffsgeschichtlich angelegten Beitrag von Jutta Heinz zu "Kultur und Identität und literarischen Identitätskonzepten um 1800" sowie Klaus Mangers Aufsatz "Dichter und Schriftsteller: Schreibende Bürger, Nationalautoren und Weltbürger im Ereignisraum von Weimar und Jena um 1800". Kritisiert werden sollen solche Studien, die in einem entsprechend thematisierten Forschungsbereich ja nahe liegend sind wohlgemerkt nicht prinzipiell - nicht nur Mangers Aufsatz bietet eine fesselnde Lektüre -, sondern die zumindest dem Rezensenten etwas zu sehr dominierende Konzentration darauf in einem Band, der ja doch allgemeinere Antworten auf die Frage nach Identitäten um 1800 geben soll.
Eine Ausnahme macht der Aufsatz Martin Kriegers über den Patriotismus-Diskurs und die Konstruktion kollektiver Identitäten in Hamburg, indem er nicht auf einzelne herausragende Persönlichkeiten, sondern auf die intellektuellen Führungsschichten einer Stadt konzentriert ist. Enttäuschend ist hier allerdings, dass lediglich Bekanntes über den "Patrioten", die Moralischen Wochenschriften und die "Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe" wiedergegeben wird, die inzwischen gut dokumentierten mehr als tausend periodischen Schriften, die in der Hansestadt im 17. und 18. erschienen sind, jedoch praktisch keine Berücksichtigung finden, obwohl sie in der zweiten Hälfte des aufgeklärten Säkulums fast zu einem identitätsstiftenden ersten Parlament Hamburgs werden, in dem - zwar nicht abgestimmt, aber doch - eine große, Meinungen und obrigkeitliche Entscheidungen prägende Kraft entfaltet wird, indem hier alle mit dem Gemeinwesen und Gemeinwohl zusammenhängenden Fragen diskutiert werden. Das Spezifische der Identität, das die Hamburger "Patrioten" auszeichnete, bleibt so weitgehend im Dunkeln.
Allerdings werden in mehreren Aufsätzen auch Themen behandelt, die neue und manchmal überraschende Perspektiven und Antworten bieten. Originell ist die Frage nach den Zusammenhängen von Konsum und kultureller Identität durch Michael North beziehungsweise der Geschäftsprogrammatik des Verlages von Friedrich Justin Bertuch und kultureller Identität durch Werner Greiling. Hier werden Ansätze zu einer einheimischen oder nationalen Geschmacksbildung aufgezeigt. Aufschlussreich sind auch die Aufsätze von Thomas Bach und Olaf Breidbach zur Bedeutung der Naturlehre und Naturwissenschaft für die Entstehung von Identitäten unter den Gebildeten.
Wenigstens hingewiesen sei auf die Beiträge in den Rubriken "Geschlecht" und "Institutionen". Siegrid Westphal behandelt "Geschlecht und Nation um 1800 im Alten Reich: Traditionslinien und Wandel", Astrid Ackermann Mode und Kommerz als nationale Aufgabe, Heide Hollmer Karoline von Günderrodes "'ironische' Weiblichkeit" und Andrea Heinz am Beispiel der Schauspielerin Caroline Schulze-Kummerfeld "Identität und Rollenverständnis im Leben und auf der Bühne". Hans-Werner Hahn schließlich untersucht am Beispiel Weimar-Jena die Bedeutung städtischer Traditionen und bürgerlicher Interessenpolitik für den Wandel städtischer Identität zwischen 1770 und 1830, Wolfgang Burgdorf nimmt die letzte Generation der Regensburger Reichstagsabgeordneten in den Blick, und Andreas Klinger befasst sich mit Identität und Selbstverständnis im studentischen Konstantistenorden.
Ein Fazit zu dem Band fällt wie immer dann nicht ganz leicht, wenn nahezu alle Beiträge ihre Themen sachkundig und kenntnisreich erarbeitet haben, einzelne Aufsätze ausgesprochen anregend sind und zum Teil sogar Überraschendes und Neues bieten, wenngleich Überschneidungen mit den thematisch ähnlich fixierten zahllosen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre nicht vermieden werden konnten, vermutlich auch nicht vermieden werden sollten. Vielleicht fehlte dem Rezensenten ein wenig, was ihn besonders interessiert, und überhaupt ist ja Fehlendes immer am leichtesten zu monieren. Da wäre an erster Stelle zu nennen, was im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts doch eine für das Thema wichtige Haupttendenz der deutschen Entwicklung zu sein scheint, nämlich die mit der Entstehung zahlreicher überregionaler Zeitschriften unübersehbare Herausbildung einer nationalen Öffentlichkeit, in der gemeinnützig-patriotisches und volksaufklärerisches Engagement eine herausragende Rolle spielte sowie die für die Identität der Aufklärer bedeutende Reformorientierung deutlich wird, die für das schwierige Verhältnis zu dem mit der Französischen Revolution einhergehenden Epochenumbruch mitverantwortlich ist.
Holger Böning