Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase (= Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik; Bd. 10), Frankfurt/M.: Campus 2004, 436 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-37462-8, EUR 49,90
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In den westlichen Industriestaaten rückte in den letzten Jahren der alte Mensch zunehmend in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Mit Blick auf die sinkenden Geburtenraten und die steigende Zahl älterer Menschen beschwören Wirtschaftswissenschaftler Szenarien überalterter und damit wettbewerbsunfähiger industrieller Gesellschaften herauf. Die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft beschäftigt aber nicht nur Wirtschaft und Politik, vielmehr lässt sich auch im medizinischen Bereich ein Trend zur intensiveren Auseinandersetzung mit alterspezifischen Krankheiten und Leiden feststellen.
Die professionelle Beschäftigung der Medizin mit dem Alter und die Entwicklung von eigenen Fachrichtungen ist eine jüngere Erscheinung. Auch wenn der Begriff "Geriatrie" als Terminus technicus für die deutsche Bezeichnung "Altenheilkunde" bereits 1909 von dem österreichischen Mediziner Ignaz L. Nascher vorgeschlagen wurde, so entwickelte sich das dazugehörige eigenständige Fachgebiet erst langsam seit den 1940er-Jahren. Allerdings existierte ein Corpus "geriatrischer Fachliteratur" (24), so argumentiert der Kölner Medizinhistoriker Daniel Schäfer in seiner Habilitationsschrift, bereits in der Frühen Neuzeit. Und eines der großen Verdienste des Autors liegt sicherlich darin, alle ihm zugänglichen Schriften zum Greisenalter im europäischen Raum zwischen 1500 und 1800 erfasst zu haben. Die Grundlage für seine Untersuchung zur medizinischen Vorstellung vom Alter in der Frühen Neuzeit bilden so neben einigen allgemeinmedizinischen und naturphilosophischen Werken circa einhundertsiebzig meist lateinische Schriften, die fast ausschließlich aus der Feder gelehrter Universitätsmediziner stammen.
Für den argumentativen Aufbau des Buches ist der enge Bezug dieser Schriften zu ihrem Entstehungsort wichtig, dem Umfeld der frühneuzeitlichen Universität. Die Universität ist für Schäfer "Tatort" (17) der Wissensrepräsentation der damaligen "herrschenden" (17) Wissenskultur. Das Ziel seiner Untersuchung ist eine detaillierte Analyse dessen, was diese herrschende Wissenskultur und ihre Vertreter, die akademischen Mediziner, in ihren Veröffentlichungen über das Thema Alter zu sagen hatten. Dies ist ihm auch gelungen.
Seiner sehr detaillierten Textanalyse stellt er eine allgemein verständliche und gut lesbare Einführung in die generellen Vorstellungen der frühneuzeitlichen Medizin und Naturphilosophie über das Alter voran (31-66). Die Texte selbst werden in ihrer chronologischen Reihenfolge vorgestellt und "entsprechend den traditionellen medizinischen Fachgebieten - Physiologie, spezielle Pathologie, Diätetik, Therapie -" (20) untersucht. Inhaltlich teilt Schäfer seine Texte in drei Gruppen: Die erste umfasst die Schriften zur Altenfürsorge (Gerokomien) vom Ende des 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert und zeichne sich, so der Autor, durch ihre Rezeption aristotelisch-galenischer Traditionen aus. Diese Arbeiten seien noch nicht unbedingt dem universitären Umfeld zuzuordnen, auch wenn die meisten der Autoren studierte Mediziner gewesen seien. Die ersten "geriatrischen Hochschulschriften" (390) entstanden erst nach 1620, und ihre Existenz verdankten sie häufig dem Publikationszwang medizinischer pro-gradu-Disputationen. Obwohl sie sich weiterhin an aristotelischen-galenischen Konzepten orientierten, spiegelten sich hier zunehmend auch die neuen chemischen, mechanistischen und dynamistischen Strömungen in der Naturphilosophie und Medizin der Zeit wider. In der letzten heterogenen Gruppe fasst Schäfer das geriatrische Schrifttum des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zusammen, welches seines Erachtens einerseits an den Traditionen der gelehrten Gerokomien anknüpfe, andererseits unter Einfluss der Aufklärung zu einer popularisierenden Darstellung neige.
Neben diesem umfassenden Überblick zur frühneuzeitlichen Geriatrie "im Sinne einer akademisch geprägten Wissenskultur" (21) macht Schäfer auch einige interessante Ausflüge in andere frühneuzeitliche Wissenschaftsdisziplinen, wie die Theologie oder Jurisprudenz, die sich ebenfalls mit dem Thema Alter beschäftigten und Einfluss auf die medizinischen Konzepte ausübten. Interessant ist seine Diskussion um das Phänomen der Altersvergesslichkeit (306-324). Diese ist zum einen im Schnittpunkt zwischen medizinischen und philosophisch-theologischen Auffassungen von der Seele angesiedelt. Zum anderen berührten die Diskussionen um Gedächtnisschwäche auch den zivil- und strafrechtlichen Raum, wenn es zum Beispiel um die Anfechtung oder Rechtfertigung von Testamenten ging. Dass jedes Kapitel am Ende zusammengefasst wird und die Hauptthesen noch einmal hervorgehoben werden, trägt ebenfalls zur besseren Verständlichkeit der damaligen medizinischen und naturphilosophischen Ideen und Praktiken bei, zumal sich diese extrem von unseren heutigen wissenschaftlichen Vorstellungen unterscheiden.
Solange Schäfer bei der Herausarbeitung interner Strukturen und Aussagen der Texte bleibt, ist seine Studie ein Gewinn. In dem Moment allerdings, in dem er seine Ergebnisse in einen weiteren theoretischen Rahmen stellt, ist er weniger überzeugend. Ursächlich dafür ist seine theoretische Grundüberzeugung: Obwohl Schäfer darauf hinweist, dass die frühneuzeitliche Medizin in ihrer Theorie und Praxis sowie in ihrer institutionellen Ausformung mit der modernen Medizin nicht vergleichbar ist (16, 18), bildet doch Letztere unterschwellig den Fixpunkt seiner Untersuchung. Schäfers retrospektive Orientierung zeigt sich besonders deutlich an einer seiner übergeordneten Leitfragen, in der er untersucht, ob es bereits in der frühneuzeitlichen Literatur Anzeichen für die Ausbildung einer Fachdisziplin Geriatrie gegeben habe. Dies ließe nämlich, argumentiert Schäfer, darauf schließen, dass bereits damals eine Medikalisierung des Alters durch die akademischen Mediziner stattgefunden habe (19).
Nun wurde in zahlreichen Studien in der Sozialgeschichte der Medizin in den letzten Jahren gezeigt, dass eine solche "Definitionsmacht" akademischer Ärzte in der Frühen Neuzeit nicht existierte. Die gelehrten Mediziner mussten auf dem großen medizinischen Marktplatz der Frühen Neuzeit mit vielen nicht akademischen Heilern sowie unterschiedlichen Wissenstraditionen wetteifern. Akademisches Wissen war somit keinesfalls "herrschendes Wissen" (17), sondern eine Wissenskultur unter vielen anderen.
Schäfer sieht seine Arbeit nicht als Beitrag zur Sozialgeschichte der Medizin. Fragen wie die nach der Klienten- oder Patientenperspektive können seines Erachtens erst "in einem zweiten Schritt erschlossen werden - nach einem Verständnis der theoretischen Grundlagen, die für die Welt- und Selbstbestimmung der Frühen Neuzeit so entscheidend waren" (16). Es bleibt dennoch kritisch zu fragen, ob eine ideengeschichtlich orientierte Arbeit wie die von Schäfer vorgelegte die Ergebnisse sozialgeschichtlicher Untersuchungen mehr oder weniger ignorieren kann, ohne selbst mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Im Rahmen der Ergebnisse vieler sozialhistorischer Arbeiten kann seine große Leitfrage, ob "die letzte Lebenszeit erst aufgrund der Definitionsmacht der Medizin zum Konstrukt eines eigenständigen Lebensalters wird" (19) und ob es "umgekehrt auch Hinweise auf eine allmähliche Dekonstruktion dieses Artefakts" (19) gibt, eigentlich keine ernsthaft zu diskutierende Frage mehr sein. Und dies umso weniger, wenn man sich nur auf eine Quellenart beschränkt.
Schäfers Orientierung an der heutigen Strukturierung wissenschaftlichen Wissens in verschiedene Disziplinen und Richtungen und sein Versuch, die frühneuzeitliche Medizin in ein modernes Zwangskorsett zu zwängen, macht es nicht immer leicht, seiner theoretischen Argumentation zuzustimmen. Dennoch ist seine materialreiche Studie ein Gewinn für jeden, der sich speziell für das Thema Alter oder aber ganz allgemein für Körpergeschichte in der Frühen Neuzeit interessiert. Es ist sicherlich eine grundlegende Arbeit zu diesem lange vernachlässigten Thema in der Medizingeschichte.
Claudia Stein