Tobias Wildi: Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945-1969 (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 4), Zürich: Chronos Verlag 2003, 279 S., ISBN 978-3-0340-0594-4, EUR 24,80
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Ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland wurde auch in der Schweiz in den ersten Jahrzehnten der kerntechnischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg die Strategie verfolgt, einen Schwerwasserreaktor mit dem Brennstoff Natururan als eigenen Reaktortyp zu entwickeln. Hier wie da wurde das kostspielige Engagement ähnlich begründet: Man wollte bei der Zukunftstechnologie Kernenergie den Anschluss an die Atommächte gewinnen. Ein eigener Reaktortyp sollte sowohl die technologische Potenz zeigen als auch der kerntechnischen Industrie den Weg für lukrative Geschäfte bereiten. Der Brennstoff Natururan war beliebt, weil so das Brennstoffmonopol der USA umgangen werden konnte. Angereichertes Uran war nur durch die USA zu beziehen. Im Rahmen der "Atoms for peace"-Politik konnte es allerdings nur für Forschungsreaktoren, aber nicht für eigene kommerzielle Anwendungen erworben werden, was dem kerntechnischen Ehrgeiz in der Schweiz und in der Bundesrepublik zuwider lief.
Die Schwerwasserreaktortypen auf Natururanbasis konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Zu Beginn der 1960er-Jahre zeichnete sich vielmehr der Siegeszug der amerikanischen Leichtwasserreaktoren der Firmen Westinghouse und General Electric ab. Nun stellte auch die Schweizer Regierung die landeseigene Entwicklung dadurch infrage, dass sie den Import ausländischer Reaktoren forderte. Und das, obwohl sie den eigenen Reaktor zuvor mit der stattlichen Summe von 50 Millionen Franken unterstützt hatte und damit ein Industrieprojekt gefährdet wurde, das eines der umfangreichsten war, das je in der Schweiz realisiert worden war.
Die Frage, inwieweit militärische Überlegungen eine Rolle in der kerntechnischen Entwicklung spielten, stellt sich für die Schweiz deswegen besonders, weil die Diskussion um die militärische Bedeutung der Kernenergie in den Anfängen der Entwicklung 1945 eine größere Rolle spielte, als zehn Jahre später beim offiziellen Start des Atomzeitalters in der Bundesrepublik. Von staatlicher Seite interessierte sich in der Eidgenossenschaft zuerst das Militärdepartement für die zukunftsträchtige Technologie. Hier wurde das Wissen über Kernenergie "monopolisiert". Hintergrund war der nicht öffentlich geäußerte Traum von schweizerischen Atomwaffen.
Wildi kommt jedoch zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Bielefelder Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau für die bundesdeutsche Kernkraftentwicklung. Die Gedankenspiele unter Aufsicht des Militärdepartements erlangten ebenso wenig wie die Fantasien einiger westdeutscher Akteure jemals eine praktische Bedeutung. Vielmehr hemmte in der Schweiz die Konzentration des Know-hows im Militärdepartement die spätere Entwicklung, da der Staat aufgrund von Wissensdefiziten kein zentraler Akteur in der weiteren Atomtechnologieentwicklung wurde. Er bezahlte zwar den Großteil der Reaktorentwicklung, griff jedoch nicht in dem Maße ein, wie es in den meisten anderen europäischen Ländern üblich war. So war der Delegierte für Fragen der Atomenergie damit überfordert zu entscheiden, welcher Reaktortyp denn gefördert werden sollte. Die drei Projektgruppen, die sich beworben hatten, einigten sich auf die Gründung einer gemeinsamen Dachorganisation, der "Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik" (NGA), und entschieden sich für den Schwerwasserreaktor, der unterirdisch in einer Kaverne in rund 40 Metern Tiefe realisiert wurde, was eine internationale Besonderheit darstellte und für größere Sicherheit sorgen sollte. Dass das containment und die sicherheitstechnische Wirkung der Kaverne allerdings so bald auf die Probe gestellt werden sollten, ahnte vor dem ersten Betriebstag des Reaktors, dem 21. Januar 1969, noch niemand: Eines der Brennelemente überhitzte, begann zu brennen und explodierte. Daraufhin barst der Moderatortank und Schweres Wasser und radioaktives Material wurden durch die Reaktorkaverne geschleudert. Der Reaktor wurde vollständig zerstört, zum Glück kamen keine Menschen zu Schaden.
Damit war die eigene schweizerische Schwerwasserreaktorentwicklung endgültig gescheitert. Die Analyse des Schwerwasserreaktorprojektes stellt den Schwerpunkt von Wildis Arbeit dar. Wildi verwendet Christopher Freemans Konzept eines Netzwerkes von öffentlichen und privaten Institutionen, das als "national system of innovations" zu analysieren ist.
Anhand zahlreicher Akten der beteiligten Firmen und Behörden sowie Nachlässen von Wissenschaftlern und Managern kommt der Schweizer Technikhistoriker zu dem Ergebnis, dass für den Misserfolg nicht nur externe Faktoren wie das für die Schweizer Industrie kaum zu verkraftende Investitionsvolumen, der rasche technische Wandel oder der Import der amerikanischen Leichtwasserreaktoren verantwortlich war, sondern in erster Linie die investitionshemmende Organisationsstruktur der NGA. Es gelang aufgrund der vielen widerstrebenden Interessen nicht, sich auf ein verbindliches Entwicklungsprogramm zu einigen.
Wildis Arbeit zeigt, wie wertvoll insbesondere die Firmenakten für die Rekonstruktion eines Reaktorprojektes sind und welchen Aufschluss sie über die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Unternehmen geben. Die Dissertation ist sehr gut strukturiert und flüssig zu lesen. Die Schlussfolgerungen sind klar und durch die Quellen belegt. Die kleine nuclear community der Schweiz war aufgrund ihrer beschränkten Ressourcen auf die Entwicklungen im Ausland angewiesen. Daher hätte man sich häufiger Vergleiche mit anderen europäischen Ländern gewünscht.
Im Hinblick auf die bundesdeutsche Entwicklung fallen Parallelen auf, beispielsweise die anfängliche Skepsis der Energieversorgungsunternehmen, aber auch wichtige Unterschiede: Während die bundesdeutsche Entwicklung in den 1950er- und 1960er-Jahren von einem starken Engagement von maßgeblichen Unternehmen der chemischen Industrie bestimmt war (beispielsweise Hoechst), hielt sich die schweizerische chemische Industrie, die traditionell stark auf die Produktion von Pharmazeutika ausgerichtet war, von der kerntechnischen Entwicklung fern. Im Gegensatz dazu waren wichtige bundesdeutsche Chemie-Manager, wie Karl Winnacker, Wilhelm Alexander Menne oder Leopold Küchler, wichtige Promotoren der Kerntechnik in der Bundesrepublik. Für ihre Unternehmen verfolgten sie das Ziel, neue Produktionsgebiete zu erschließen, die großindustrielle chemische Prozesse voraussetzten, wie etwa die Produktion von Schwerem Wasser oder die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente. [1] In der Bundesrepublik Deutschland wurde deswegen eine Versuchswiederaufarbeitungsanlage realisiert und ein großindustrielles Wiederaufarbeitungsprojekt als unverzichtbarer Bestandteil der kerntechnischen Entwicklung angesehen. Für die Schweiz scheinen diese Überlegungen für die kerntechnischen Entwicklung nahezu ohne Bedeutung gewesen zu sein. Trotzdem hätte man sich Aussagen dazu gewünscht, ob die Entsorgung, insbesondere die Zwischen- und Endlagerung von radioaktiven Abfällen, irgendwann thematisiert wurde.
Das mindert den Verdienst Wildis jedoch nicht, die Frühphase der kerntechnischen Entwicklung der Schweiz umfassend analysiert zu haben. Die Arbeit basiert zum großen Teil auf Beständen aus dem Archiv zur Geschichte der Kernenergie an der ETH Zürich, auf die sich auch die zeitgleich erschienene Dissertation von Patrick Kupper zum Kernkraftwerk Kaiseraugst stützt. [2] Auf weitere Arbeiten darf man gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Wolfgang Issel: Die Wiederaufarbeitung von bestrahlten Kernbrennstoffen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main u.a. 2003.
[2] Vgl. Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst, Zürich 2003; siehe hierzu die Rezension von Jens Ivo Engels, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12, URL: http://www.sehepunkte.de/2003/12/3156.html.
Anselm Tiggemann