Rezension über:

Bianca Hoenig: Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 20), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 239 S., 4 Kt., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-35595-4, EUR 60,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Anselm Tiggemann
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Anselm Tiggemann: Rezension von: Bianca Hoenig: Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/06/32578.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Bianca Hoenig: Geteilte Berge

Textgröße: A A A

Die Tatra ist der höchste Abschnitt der Karpaten, die sich über insgesamt 1.000 Kilometer durch das östliche Europa erstrecken: Das Gebirge ist damit im flachen Ostmitteleuropa eine Besonderheit: Die Tatra bedeckt lediglich ein Gebiet der Größe des Stadtstaates Hamburg, das sich auf Polen und die Slowakei aufteilt. Das alpine Hochgebirge ist also ein Naturraum, der über politische Grenzen hinausreicht. Damit eignet sich eine historische Studie zur Tatra hervorragend, die Forderung nach dem "transnational turn" in der Umweltgeschichte umzusetzen. Bianca Hoenig zeigt eine Möglichkeit, wie man sowohl grenzüberschreitende Naturschutzpläne als auch nationale Konkurrenzen, die am Ende der Zwischenkriegszeit zu einem bewaffneten Konflikt zu eskalieren drohten, in den analytischen Griff bekommt. Der Streit um das Verfügungsrecht über die Tatra führte bis zur militärischen Aggression zwischen den beiden Nachbarstaaten, brachte aber auch international beachtete grenzübergreifende Zusammenarbeit zum Schutz des Gebirges hervor. Die Autorin verfolgt die Geschichte von Konflikt und Kooperation in der Nutzung eines Hochgebirges über die tiefen Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg, in dessen Verlauf sich die staatliche Zugehörigkeit und das politische System in der Tatra mehrfach änderten. Durch diese Langzeitperspektive sowie den Blick auf Bezüge und Verbindungen zu Naturräumen in anderen Weltgegenden wird deutlich, dass die grundsätzlichen Konfliktlinien zwischen Landwirtschaft, Tourismus und Naturschutz über politische und sozioökonomische Brüche hinweg bemerkenswert konstant blieben. Damit überrascht die systemübergreifende Nutzungsgeschichte dieser Bergregion. Denn der Bogen ist weit gespannt, so dass auch größere Unterschiede in den einzelnen politischen Systemen und Jahrzehnten zu erwarten gewesen wären. Unterschiede zeigen sich vielmehr in den Verwerfungen durch das politische System: Durch die Enteignungen und Vertreibungen in Folge des 2. Weltkrieges oder auch die Unzulänglichkeiten des planwirtschaftlich organisierten Massentourismus bis zur politischen Wende 1989.

Hoenigs Bogen reicht von der Entdeckung des Hochgebirges und seiner Bewohner durch die polnische und später die slowakische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert bis zu den Konflikten zwischen Tourismus und Naturschutz nach dem Untergang des Staatssozialismus. Die 2016 eingereichte Dissertation, die für die Drucklegung leicht überarbeitet wurde, erläutert das Spannungsfeld zwischen Nationalpark, Massentourismus und lokalem Wirtschaften. Die Studie zeigt, wie lokale Auseinandersetzungen um die alltägliche Nutzung des Hochgebirges immer wieder gesamtgesellschaftliche Relevanz erhielten. Konflikte zwischen Naturschützern, Touristen und Almbauern reichten weit über die Region hinaus. Den Auftakt bildet die "Entdeckung der Tatra" auf polnischer Seite durch Tytus Chalublinski. Der Warschauer Physiker propagierte mit einigem Erfolg Galizien, den zur Habsburgermonarchie gehörenden Teil des vormaligen polnisch-litauischen Königreichs, als zeitgemäßes Reiseziel und nationale Wallfahrt zugleich. Nach dem Besuch der historischen Hauptstadt Krakau mit Königsschloss und Grablege der Monarchen führte die Route weiter nach Zakopane, einem Weiler am Fuß der Berge, der sich zur bevorzugten Destination für die patriotische Sommerfrische entwickelte. Die Ureinwohner, die Gorallen, wurden zum Inbegriff der "Urpolen" verklärt. Aber nicht nur für die polnische Nationalbewegung entwickelte sich die Tatra bereits im 19. Jahrhundert zur ikonischen Landschaft. Auch die slowakische Seite begann, die periphere Region für den Tourismus zu erschließen. Auch hier galt das Gebirge schon zuvor als mythischer Ursprungsort, als Wiege der slawischen Kultur. In der Vorstellung von einem "Tatravolk" erblickten die Vorreiter der slowakischen Nationalbewegung die Zukunft. Dies stand im Gegensatz zur tschechischen Nationalbewegung, die sich auf Prag als bevorzugten Ort bezog. [1]

Das zweite und dritte Kapitel befassen sich mit der grenzüberschreitenden binationalen Nationalparkidee in der Zwischenkriegszeit. International wurde das Projekt gelobt und gefeiert; es galt als mitteleuropäischer "peace park". Bei Polen und Slowaken hielt sich der Enthusiasmus allerdings in Grenzen. Denn zwischen den beiden neuen Nationalstaaten herrschten Grenzstreitigkeiten. So wurde das Projekt mit gemischten Gefühlen betrachtet, da jede Seite behauptete, auf Kosten der jeweils anderen, Profit aus dem Projekt zu ziehen. So entpuppte sich das Projekt als "desintegrativ" (24). Dabei spielten auch die jeweiligen innergesellschaftlichen Konflikte um die Nutzung zwischen Landwirtschaft und Tourismus eine Rolle. Der 2. Weltkrieg stellte einen großen Umbruch dar, nicht zuletzt weil sich durch Enteignungen und Zwangsmigrationen die Eigentums- und Bevölkerungsverhältnisse veränderten. Im 4. Kapitel werden die Erinnerungen der Karpaten-Deutschen an die Tatra thematisiert, bevor die Neuordnung der Tatra nach dem 2. Weltkrieg dargestellt wird. Im Ergebnis kam es auf beiden Seiten in der Nachkriegszeit jeweils zur Gründung eines eigenen Nationalparks.

Ein gescheitertes touristisches Großprojekt, der Bau einer Alweg-Bahn auf tschechoslowakischer Seite, und die Bedeutung dieses Modernisierungsdiskurses im Zeichen des Prager Frühlings bilden den Kern des fünften Kapitels. Die Einschienen-Schnellbahn, die in Köln in den 1950er Jahren entwickelt worden war, faszinierte durch ihr futuristisches Äußeres und überzeugte Verkehrsplaner durch eine platzsparende Hochbahntrasse und niedrigen Energieverbrauch. [2] Obwohl im fernen Prag längst ihr "Aus" beschlossen worden war, machten Studenten für die zukunftsweisende Alweg-Bahn mobil, die sie als Lösung der Verkehrsprobleme durch den Fremdenverkehr gerade in den Ferienzeiten propagierten. Es entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Unterstützung mit Spenden in Form von Geld und unentgeltlicher Arbeitskraft. Mit einer Absage an das Projekt wurde der Ausbau des Eisenbahnnetzes beschlossen. Im Strudel der Ereignisse des Prager Frühlings gewannen andere Themen an Bedeutung, so dass die Reaktion der slowakischen Bevölkerung überraschend verhalten ausfiel.

Im sechsten Kapitel werden die Enteignungen zugunsten des Nationalparks auf polnischer Seite genauer analysiert und das Spannungsfeld zwischen Naturreservat und ansässiger Bevölkerung anhand der lokalen Konfliktgeschichte untersucht. Der Ausblick zeigt, wie die Konflikte im postsozialistischen Zeitalter nachwirken und die Nutzungskonflikte auch die Zukunft der Tatra beeinflussen.

Die sehr gut lesbare Studie erschließt souverän Quellen und Literatur aus mehreren politischen Systemen, verschiedenen Staaten und zwei Jahrhunderten. Sie lenkt den Blick sowohl auf die lokalgeschichtlichen Besonderheiten als auch auf die übergeordneten Zusammenhänge mit ihren jeweiligen geistesgeschichtlichen und politischen Hintergründen. Damit bietet sie sowohl der/dem umweltgeschichtlich interessierten Leser/in als auch dem mit der Tatra Vertrauten neue Erkenntnisse zu den mehr als hundert Jahre alten Nutzungskonflikten und ihren Hintergründen.


Anmerkungen:

[1] Vladimir Macura: The Mystifications of a Nation. "The potato bug" and other Essays on Czech Culture, Madison 2010, 44-46.

[2] Rudolf Schmidt: High Tech der fünfziger Jahre. Von der Revolution der Verkehrstechnik zum Spielzeug, in: Geschichte in Köln 43 (1998), 123-136.

Anselm Tiggemann