Joachim von Puttkamer: Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867-1914 (= Südosteuropäische Arbeiten; Bd. 115), München: Oldenbourg 2003, 532 S., ISBN 978-3-486-56741-0, EUR 64,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Welche Rolle spielte die Schule für die Konstruktion der Nation? Welche Funktionen waren ihr in dem multinationalen ungarischen Staat nach 1867 zugedacht, unter welchen Voraussetzungen konnte sie an deren Realisierung gehen, und welche Wirkung erzielte sie tatsächlich, insbesondere in den von Slowaken, Siebenbürger Sachsen und Rumänen bewohnten Gebieten? Diesen Fragen geht Joachim von Puttkamer in seiner vorliegenden Monografie nach. Damit greift er ein Problem auf, das angesichts der fortdauernden Debatten um den Charakter der ungarischen Nationalitätenpolitik während des Dualismus, um Intentionalität oder Spontaneität sprachlicher Assimilation von Angehörigen der Nationalitäten, um Maß und Erfolg einer der staatlichen Politik wie lokalen Größen und Fachbehörden gleichermaßen zugeschriebenen Magyarisierungspolitik, eine theoretische und methodische Herausforderung bedeutet. Der Verfasser hat sich dieses Problems mit großer Umsicht angenommen und es in bewundernswerter Komplexität und dennoch höchst lesbarer Form abgehandelt.
Das Werk ist in sieben Kapitel gegliedert. Im ersten gibt Puttkamer eine theoretische und historische Einführung in den Problemkreis "Nationalstaatliche Schulpolitik in einem vielsprachigen Umfeld" (15-69). Im zweiten beschäftigt er sich mit der Organisation der Schulen, Strategien ihrer Modernisierung, deren wachsender nationalpolitischer Akzentuierung, wie sie besonders die Lex Apponyi von 1907 markierte, und dem Ergebnis dieser Politik auf dem Gebiet des Volksschulwesens beziehungsweise, gleichermaßen regional und nationalitätenspezifisch differenziert, in den Mittelschulen (70-186). In Kapitel 3 wird grundsätzlich auf das wohl am stärksten umstrittene und auch in der historiografischen Aufarbeitung von Polemik geprägte Problem, auf "Staatssprache und Mehrsprachigkeit", eingegangen (187-252). Das vierte Kapitel ist mit der Vermittlung der ungarischen Nationsidee und ihrer rechtlichen Fixierung im Unterricht und der Darstellung von Gründungsmythen der Nationen in Lehrbüchern im Laufe des Untersuchungszeitraums gewidmet (252-395); anschließend fragt der Verfasser, wie die "Inszenierung der Nation" in Schulfesten erfolgte (396-417), ehe er in Kapitel 6 als weitere Facette dieses Schulalltags untersucht, welchen Konflikten sich nichtmagyarische Schüler ausgesetzt sahen und wie sie relativ selbstständig im spezifischen Rahmen von Selbstbildungszirkeln Modelle der Nation einübten (418-445). Im siebten Abschnitt zieht Puttkamer schließlich eine "Bilanz" zu "Schulen in Ungarn 1867-1914" (446-454). Verzeichnisse von Abkürzungen, Tabellen und Karten, Quellen und Literatur sowie mehrsprachige Register zu Ortsnamen und Komitaten und ein ausführliches Personenregister ergänzen den Band.
Ein wesentliches Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist bereits die genaue Beschreibung der Ziele, die vom Staat wie auch von anderen Akteuren in der Entwicklung des Schulwesens insgesamt und speziell in den von nichtmagyarischen Nationalitäten bewohnten Regionen Ungarns verfolgt wurden, die Analyse der divergierenden lokalen und regionalen Voraussetzungen dieses Projekts, der Konzepte und der Handlungsvoraussetzungen, mit denen sich Vertreter der Nationalitäten mit diesen Erwartungen auseinandersetzen, und der Entwicklungen, die sich auf beiden Seiten dabei vollzogen. Als Ergebnis dieser in die strukturellen Modernisierung des Schulwesens eingebundenen nationalen Integrationsstrategie kann bilanziert werden: Hinsichtlich Schulbesuch und Alphabetisierung hatten sich die Verhältnisse seit 1867 in den weiterhin in der Hand der Kirchen verbliebenen Schulen wesentlich verbessert. Die Mittelschulen waren sogar über die zeitgenössischen Bedürfnisse hinaus ausgebaut. Die ungarische Sprache konnte überall im Lande Zugewinne verzeichnen, die systematische Kontrolle von Schulbüchern und die Ausbildung von Lehrern sorgten dafür, dass die ungarische Staatsidee im Unterricht vermittelt wurde und konkurrierende Ideen wenig Einfluss erlangen konnten. Eine zunehmend dichte Folge nationaler Feste und Gedenktage machte die Schulen zusätzlich zu Vermittlern politischer Wertvorstellungen. Eine Abkehr von einem tolerant gehandhabten Konzept einer politischen Staatsnation hin zur Idee einer magyarisch geprägten Kulturnation lässt sich an den Schulen mit gewisser Verzögerung ab Mitte der 1880er-Jahre beobachten. Allerdings konstatiert Puttkamer, "daß die Tendenz zur Magyarisierung zu keiner Zeit zu einer Abkehr von der liberalen Idee individueller, bürgerlicher Gleichberechtigung innerhalb der ungarischen politischen Nation führte". Die "Spannung zwischen politischer Nation und ethnischer Vielfalt in der Schule" blieb dabei auf die Dauer ungelöst (448 f.). Die Idee der Staatsnation blieb jedoch "Denkmuster und Identifikationsangebot" - zunehmend im Sinne einer "der ethnischen Herkunft des Einzelnen gegenüber indifferenten, kulturell jedoch eindeutig magyarisch geprägten Nation" (450).
Die Umsetzung dieses Konzepts wies deutliche regionale Unterschiede auf. Gegenüber der nationalslowakischen Politik zum Beispiel wurde in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts energisch vorgegangen, mit dem Ergebnis, dass die slowakische Nationalbewegung in der Folgezeit auf einen engen Personenkreis beschränkt blieb. Die Einbindung der Slowaken in zwei rivalisierende Kirchen, die römisch-katholische und die evangelische, in denen sie wiederum entweder eine Minderheit ausmachten oder kaum in die Führungsschichten vorgedrungen waren, gab ihren kulturellen Zielen zudem auch in der Schule wenig Gewicht - anders als bei den Sachsen, aber auch den Rumänen Siebenbürgens. Der historische Gründungsmythos vom Großmährischen Reich ließ sich ebenfalls schlecht gegen magyarische Hegemonieansprüche instrumentalisieren, sondern bot umgekehrt politische Angriffsflächen für den Panslawismusvorwurf. So ergriff eine Mehrzahl slowakischer Schüler - ähnlich wie die oberungarischen Deutschen oder die Juden - die Möglichkeiten, die ihnen die Akzeptanz der ungarischen Staatsidee und der Eingliederung in die ungarische Gesellschaft boten. Slowakisch wurde auf diesem Wege "in die ländliche und private Sphäre" zurückgedrängt.
Insgesamt "zahlte die ungarische Regierung für ihre Schulpolitik, welche die Bewältigung struktureller Probleme vor allem des Volksschulwesens mit nationalen Themen überlagerte, einen hohen Preis" (453). Diese Politik beziehungsweise der Widerspruch, den sie aufseiten der nationalpolitischen Aktivisten der Nationalitäten auslöste, prägte ein negatives Bild Ungarns im Ausland, und wurde, wie der Verfasser abschließend vorausdeutet, in künftigen Krisen zu einer schwerwiegenden Belastung für den inneren Zusammenhalt, ja den Bestand des Landes innerhalb seiner historischen Grenzen.
Der Verfasser, der eingangs den Anspruch abwehrt, ein "durchgängig vollständiges Gesamtbild" liefern zu wollen (69), hat dennoch eine Untersuchung vorgelegt, die auch bei Beachtung der methodisch bedingten Grenzen eines solchen Unterfanges für etliche Zeit das Standardwerk zu dem aufgeworfenen Problem bleiben dürfte.
Juliane Brandt