Kathleen Wilson (ed.): A New Imperial History. Culture, Identity and Modernity in Britain and the Empire 1660-1840, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XV + 385 S., ISBN 978-0-521-00796-2, GBP 19,99
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Hier scheint alles zu stimmen: ein vornehmer Verlag, eine renommierte Herausgeberin mit zwei hochgelobten Monografien in ihrer Leistungsbilanz, ein Titel wie ein Fanfarenstoß. Sechzehn Beiträge versammelt der Band, verfasst überwiegend von reiferem Historikernachwuchs aus Großbritannien, Irland, den USA, Australien und Israel. Kaum ein Kapitel fällt unter das ungewöhnlich hohe durchschnittliche Niveau; man spürt die Hand einer energischen Herausgeberin. Nur wenige Beiträge verzichten darauf, neue archivalische oder gedruckte Quellen zu erschließen. Lichtblicke, wohin das Auge schaut.
Wir befinden uns in der Epoche des frühneuzeitlichen oder "ersten" British Empire. Es ist zunächst atlantisch ausgerichtet, um die Mitte des 18. Jahrhunderts kommen dann Teile Indiens hinzu, und fast gleichzeitig lenken die Reisen Kapitän Cooks (niemand wird im Register häufiger nachgewiesen) die Aufmerksamkeit auf die erkundete, aber noch nicht kolonisierte Südsee. Afrika liegt noch am Rande des britischen Aktions- und Wahrnehmungskreises. Die regionale Verteilung der Themen spiegelt diese geopolitische Situation. Erstaunlich ist nur, dass ein Beitrag über Australien fehlt - anfangs noch kein Kronjuwel, aber eine Sträflings- und Siedlerkolonie, in der manches über "identity and modernity" zu lernen wäre.
Im Wesentlichen geht es um vier große Themenbereiche: die Wirkung des überseeischen Empire auf den britischen Inseln, britische Wahrnehmungen und diskursive Konstruktionen nicht-europäischer Welten, kulturelle Annäherungen im atlantischen Raum (statt der abgenutzten "Hybridität" - ein Begriff aus der landwirtschaftlichen Züchtungslehre - hier ein frischer Terminus: "interculture"), schließlich "gender" und persönliche Identitäten im Prozess wechselseitigen Entdeckens. Die Beiträge sind allesamt Fallstudien und Vignetten, breitere Übersichten und eine strikte Themensystematik fehlen. Daher muss der Hinweis auf einzelne Kapitel der persönlichen Vorliebe des Rezensenten folgen. Vier der Texte haben mich besonders überzeugt:
Michael H. Fisher zeigt am Beispiel des im Irak geborenen und in Bengalen aufgewachsenen Armeniers Emin (1726-1809), der 1751 nach England kam und sich dort mit dem jungen und noch wenig bekannten Anwalt Edmund Burke anfreundete, wie sich in der noch kaum von rassistischen Denkschemata berührten britischen Oberschichtgesellschaft durch eigene Initiative und förderndes Patronat eine alltagsweltlich verwendbare "orientalische" Identität aushandeln ließ.
Einen Reisenden in umgekehrter Richtung hat sich Kate Teltscher vorgenommen. George Bogle (1746-1781) ist dank seiner diplomatischen Mission zum Panchen Lama im Jahre 1774 als einer der ersten europäischen Tibetreisenden bekannt. Dass es neben seinem 1876 veröffentlichten Bericht auch eine reiche Familienkorrespondenz gibt, erfahren wir jetzt. Kate Teltscher nutzt sie, um Bogle mit farbigen Details als einen frei agierenden "kulturellen Grenzüberschreiter" zu portraitieren, der sich zwischen den zivilisatorischen Sphären bewegte, ohne zum definitiven "Überläufer" zu werden.
Philip J. Stern entwickelt materialreich die These, die frühe Erkundung Afrikas, bei der die Londoner African Association eine führende Rolle spielte, sei ein Versuch gewesen, dem geschwächten Image des englischen Gentleman neuen Glanz zu verleihen. Die Association mit ihrem verzweigten Mitglieder- und Korrespondentennetz habe dem Zweck gedient, mit ihrer besonderen "economy of gentility" kulturelles Kapital und nationale Helden zu produzieren. Dies geschah unter wohlkalkuliertem Einsatz der neuesten Medien und Publizitätsstrategien.
Harriett Guest schließlich greift den oft behandelten Fall des Südseebewohners Mai (oder Omai) auf, der mit Cooks zweiter Reise 1774 nach England gelangte. Sie hat eine Vielzahl noch unbekannter textlicher und bildlicher Repräsentationen dieses berühmtesten aller "edlen Wilden" aufgespürt. In ihrer Analyse schichtet sie mehrere Beobachtungsebenen übereinander und gewinnt so bemerkenswerte Aufschlüsse über "the ambivalence with which English metropolitan society conceived of its own modernity".
Summieren sich solche Einsichten zu "a new imperial history"? Was will die Herausgeberin überhaupt darunter verstehen? Die "alte" Imperialgeschichte, so mag man zunächst vermuten, war die triumphalistische, eurozentrische, vielleicht sogar rassistische Geschichtsschreibung, mit der ein sich noch stabil wähnendes Imperium die angebliche Ausbreitung von "Zivilisation", Christentum und Pax Britannica feierte. Weit gefehlt. Inbegriff des imperialhistorischen alten Denkens ist die erst 1998/99 in fünf Bänden mit insgesamt etwa 3000 Seiten erschienene "Oxford History of the British Empire" (OHBE). Sie wurde nach Erscheinen in der britischen Presse von Traditionalisten wie Lord Beloff wegen eines Mangels an imperialem Stolz und Selbstbewusstsein angegriffen. Kathleen Wilson stimmt in ihrer Einleitung (allerdings im Ton verbindlicher als viele andere) in den Chor derjenigen Kritiker von der Gegenpartei ein, die der OHBE die Vernachlässigung von "gender", Kultur, Gewalt und nicht-europäischem Eigensinn vorwerfen. Vor allem sei es ein Mangel der OHBE, die einzelnen Teile des Empire als abgegrenzte Einheiten zu behandeln und nicht als Teile eines einzigen durchlässigen Netzes - "shaped by global and regional currents, that impacted metropolitan as much as colonial culture". Daran ist manches richtig. Wie aber sieht das Gegenprogramm aus, und wie weit trägt es?
Die New Imperial History, wie Kathleen Wilson sie umreißt, korrigiert einige Unterlassungen der gar nicht so alten Alten Imperialgeschichte: Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Zentrum und überseeischen Peripherien sollten in der Tat stärker betont werden. Dabei wendet sich Wilson zu Recht auch gegen die schlichte Dichotomie We / Other, die sich immer noch in manchen Zweigen der "cultural studies" hält, und verlangt feinere Differenzierungen von "Differenz". Das "Aushandeln" von Identitäten verdient größere Beachtung. Dass "empire" je nach Betrachter, Ort und Zeit Verschiedenes bedeutete, scheint ein Gemeinplatz zu sein, könnte sich aber unter Empire-Historikern noch weiter herumsprechen. Manches andere sind alte Hüte: Von "collaborations and exchanges" sprach schon um 1970 der unter Postkolonialisten nicht mehr zitierfähige Klassiker Ronald Robinson, und dass Lokales und Globales "entangled" sind, würde in dieser Allgemeinheit seit langem niemand mehr bestreiten.
Dort, wo man den Kern des neuen Konzepts vermuten möchte, findet man eher flache Rhetorik. Was ist von einer Definition von Kultur als "the networks of people, practices, values and ideas spanning continents and oceans" zu halten? Was von einer Umschreibung von "British expansion" als "disparate bonds of experience, identity and practice"? Mit ihrer radikalen Strukturfeindlichkeit verfehlt die New Imperial History ihren Anspruch auf paradigmatischen Rang. Wer Herrschaft nur in den Erfahrungen von Individuen manifestiert sieht und das Ökonomische konsequent ausblendet (es kommt nur in Sudipta Sens Beitrag über Liberalismus als Ideologie in Indien vor, nicht aber in Wilsons programmatischen Äußerungen), wird schwerlich beanspruchen können, mehr als eine Ergänzung zu dem Diskussions- und Forschungsstand zu bieten, dessen Summe die geschmähte OHBE gezogen hat.
Ein Nachsatz: Wer in einer Zeit sich stetig beschleunigender Obsoleszenz geisteswissenschaftlicher Neuaufbrüche ein avantgardistisches Projekt lanciert, muss gewärtigen, im Rückspiegel die noch schnellere Konkurrenz auf der Überholspur heranbrausen zu sehen. Da empfiehlt es sich, auf die Pauke zu hauen, solange noch jemand zuhört. Kathleen Wilson beendet ihre Einleitung mit einer Vorschau auf den Rest des Bandes. Dort überschüttet sie vorsorglich ihre Autorinnen und Autoren mit dem warmen Regen präventiver Lobpreisung: "original", "witty", "trenchant", "brilliant", "provocative", "perspicacious", "fascinating", "fearless" und so weiter. Wie schrieb doch der Rezensent Friedrich Schiller über einen Poeten, der etwas zu dick auftrug: "Der Dichter bratet uns an seinem Genie-Feuer, welches doch ein bißchen zu kannibalisch schmeckt."
Jürgen Osterhammel