Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgeschichte der Frühen Neuzeit (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2023, 1319 S., 36 Farb-, 83 s/w-Abb. und 35 Karten, ISBN 978-3-406-78344-9, EUR 48,00
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Kathleen Wilson (ed.): A New Imperial History. Culture, Identity and Modernity in Britain and the Empire 1660-1840, Cambridge: Cambridge University Press 2004
Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Wolfgang Behringer / Miloš Halvelka / Katharina Rheinholdt (Hgg.): Mediale Konstruktionen in der Frühen Neuzeit, Affalterbach: Didymos-Verlag 2013
Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München: C.H.Beck 2015
Wolfgang Behringer / Hartmut Lehmann / Christian Pfister (Hgg.): Kulturelle Konsequenzen der "Kleinen Eiszeit". Cultural Consequences of the 'Little Ice Age', Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Dies ist das seit langem ehrgeizigste Buch über die Geschichte der Frühen Neuzeit, kosmisch in seiner Fülle und Vielfalt. Zugleich ist es ein zurückhaltendes Buch, weil es nicht mit einer unerhört neuen Sicht auftrumpft und keine griffige und zitiertaugliche "Behringer-These" anbietet. Wolfgang Behringer weiß so viel über die Weltgeschichte eines halben Milleniums, dass er mit erträglicher Mühe auch einen zweiten oder gar dritten Band hätte füllen können. Eingedenk knapper Muße seines Publikums in themenreichen Zeiten begnügt er sich mit tausend Seiten dichtem Text und über viertausend Anmerkungen. Wenn Globalhistoriker ins Erzählen kommen, schwelgen sie gerne im Material und sind oft schwer zu bremsen. Es gibt in der globalen Vergangenheit, so Behringer, "unendlich viele interessante Geschichten". (65) Bei der Auswahl für das Buch hat er sich von dem nicht begründungspflichtigen und leicht kulinarisch anmutenden Kriterium leiten lassen, diejenigen dieser Geschichten zu präsentieren, "die ich selbst gerne gelesen hätte". (65)
Da Wolfgang Behringer in dem - tatsächlich diskussionsbedürftigen - Periodisierungsschema "Antike - Mittelalter - Neuzeit" globalgeschichtlich "keinen Sinn" (63) sieht, umgeht er resolut Debatten, wie sie derzeit mit viel Argumentationsaufwand um ein "globales Mittelalter" geführt werden, und fängt einfach in eben diesem "Mittelalter" an: mit Dschingis Khan, dem Schwarzen Tod und Kaiser Karl IV. Er endet ungefähr in den 1830er Jahren und schließt in seinem Ausblick einen deprimierenden historischen Zirkel, wenn er Putin von dem Wahn besessen glaubt, "im 21. Jahrhundert immer noch Eroberungszüge wie zur Zeit der Mongolen machen zu können". (998) Fließende Epochengrenzen haben etwas befreiend Unpedantisches. Nur hätte es die Schubkraft des Buches verstärkt, den eigenen Periodisierungsnihilismus produktiv in Zweifel zu ziehen. Was bleibt in globalgeschichtlicher Perspektive von konventionellen Epochenbegriffen noch übrig, wenn es so etwas wie "Neuzeit", zumal eine "frühe", nur noch in Buchtiteln gibt?
Behringer wirft ein lockeres Jahrhundertschema über den ungeheuren Bilderbogen, den er in seinem detailseligen Buch ausbreitet. Auf eine feingliedrige Strukturierung, wie sie etwa Michael Borgolte für seine Globalgeschichte des Mittelalters [1] gewählt hat, wird verzichtet. Ungefähr 170 Textstücke mit appetitanregenden Ein-Wort-Überschriften ("Nasenhügel", "Dodo", "Ngola", "Hundejahre", usw.) sind in aleatorischer Reihenfolge in fünf Hauptkapiteln arrangiert: "Ausgangspositionen", "Welt im Aufbruch" (16. Jahrhundert), "Welt im Krisenmodus" (17. Jahrhundert), "Welt des Fortschritts" (18. Jahrhundert) und "Tanz auf dem Vulkan" (vulgo "Sattelzeit"). Dass das Stichwort "Aufbruch" dem gesamten Buch seinen Namen gibt, scheint auf das 16. Jahrhundert als das wahre Dynamisierungszentrum der neueren Weltgeschichte zu verweisen. Für die "Welt des Fortschritts" wird dann gar nicht so viel Innovatives geltend gemacht. Die europäische Aufklärung wird ihrer erleuchtenden Sonderrolle enthoben. In den 34 kaleidoskopischen Splittern, die dieses Kapitel des Buches ausmachen, geht es beispielsweise um den Sturz der Safawiden-Dynastie in Persien, die Tay-Son-Revolution in Vietnam, die Erschütterung der christlichen Universalgeschichte in Europa, die Wahhabiten- Bewegung in Arabien, den Ausbruch des Vulkans Grimsvötn auf Island, die Reise von James Bruce nach Äthiopien, die Gründung der USA oder enzyklopädische Großprojekte in China.
Alle Episoden sind sorgfältig recherchiert, lebendig geschrieben und mit Ausgriffen auf den Rest der Weltgeschichte - wenn es sein muss, bis zu den frühen Hochkulturen - gewürzt. Behringer wendet sich gegen "menschenleere" Weltgeschichten auf einem allzu abstrakten "Makro"-Niveau und meint damit wohl so etwas wie die historische "Weltsystemanalyse" des Soziologen Immanuel Wallerstein, die in der Tat seiner (damit auch meiner) Generation den Blick auf globale Zusammenhänge geöffnet hat. Er bekennt sich zur globalen "Mikrogeschichte", einer erfolgreichen, wenngleich keineswegs dominanten Richtung innerhalb der Globalgeschichte. Damit sind vor allem grenzüberschreitende Lebensläufe einfacher Menschen gemeint, d.h. so etwas wie individualisierte Mobilitätsgeschichte von unten. Behringer baut einige seiner besten Mini-Texte auf dieser Literatur auf, die er umfassend kennt.
Die Schwierigkeit liegt darin, dass, weltweit gesehen, bis heute nicht genügend "Stimmen" von Menschen außerhalb literater Eliten aus den Archiven aufgetaucht sind, um ein Minimum an darstellerischer Fülle und Kohärenz zu ermöglichen. Da etwa die Opfer des atlantischen Sklavenhandels selten Tagebuch führten, ist sogar der bibliographisch versierte Behringer auf die berühmte Autobiographie von Olaudah Equiano zurückgeworfen. Das ist für außerfachliche Leserinnen und Leser des Buches vollkommen in Ordnung, weil sie diese Quelle vermutlich nicht kennen und für die Bekanntschaft damit ebenso dankbar sein dürften wie für andere Standardepisoden der Globalgeschichte, zu denen sich kaum Neues sagen lässt: Marco Polo in China, die Seereisen des Admirals Zheng He, Cortés und die Eroberung Mexikos, die biologischen Transfers im "Columbian exchange", der Tod des Kapitän Cook, usw. Geschickt mischt Behringer weltgeschichtliche Pflichtthemen mit Überraschendem, kombiniert er Geschichten von ganz unterschiedlichen Reichweiten und Farbvaleurs.
Die cineastisch scharfen Schnitte und abrupten Schauplatzwechsel werden mit einer Archipelagisierung der Geschichte erkauft, einem historiographischen island hopping. Das mag einer heute ermattenden postmodernen Sensibilität entsprechen, auch einer Lust an intellektueller Diversität, kann aber den ebenso statthaften Bedarf nach Kohärenz und Erklärung nicht ganz befriedigen. Auch wenn sich innerhalb der einzelnen Episoden immer wieder kausale Überlegungen, Vergleiche und Hinweise auf großräumige Wirkungszusammenhänge finden, lässt der in diesem Buch zur Methode erhobene Pointillismus die Lesenden mit ihrem Verknüpfungsbedürfnis doch weitgehend allein. Während anderswo in der Globalgeschichte mit großflächigen Thesen zu sorglos umgegangen wird, fällt Behringer in das andere Extrem der Interdependenzabstinenz.
Diese Fragmentierungsneigung versucht er im letzten und relativ kurzen Kapitel ("Epilog") aufzufangen. Es ist ein abermals abwechslungsreiches Potpourri aus brillanten Betrachtungen über Renegaten, Gewalt und Ethnozentrismus (man lernt: keine europäische Spezialität), treffsicheren Stichen gegen fake global history (die Chinesen hätten Australien entdeckt, usw.) und einem abschließenden weltgeschichtlichen Glaubensbekenntnis ("Tiefenströmungen", 994-1000), das in einer tröstlichen Botschaft gipfelt: "Zivilisationen können schlechte Zeiten überdauern und zu einem Neubeginn finden." (997) Ob allerdings, wie Behringer es sieht, die gegenwärtige machtpolitische Stärke Chinas, Indiens und des Iran als Beweis für kulturelle Tiefenresilienz taugt, bliebe zu diskutieren.
Der Große Aufbruch ist ein Werk von atemberaubender Gelehrsamkeit und großer darstellerischer Souveränität. Dank eines minutiösen Registers taugt es auch zum Nachschlagen. Es ist zu stark von der auktorialen Persönlichkeit seines Verfassers durchdrungen, um das fragwürdige Reklameprädikat eines "Standardwerks" zu verdienen. Eine buchhalterische "Synthese" will es nicht sein, eine Epochen-"Analyse" [2] eigentlich auch nicht, weil es der Annahme von Tiefe hinter so viel Oberfläche misstraut. Es eine Nachempfindung frühneuzeitlicher Wunderkammern zu nennen, wäre ungerecht; eher ähnelt es einem großzügig entworfenen Museum, in dem man frei flanierend belehrt und unterhalten wird.
Anmerkungen:
[1] Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends, München 2022.
[2] Das wären z.B. C. A. Bayly: The Birth of the Modern World 1780-1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004, oder auch Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1860.
Jürgen Osterhammel