Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews, 3rd ed., New Haven / London: Yale University Press 2003, 3 Bde., XVI + 1388 S., ISBN 978-0-300-09557-9, GBP 95,00
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Fast völlig unbemerkt von deutscher Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft, beinahe auch unbemerkt vom Rezensenten, hat Raul Hilberg sein Standardwerk in einer dritten, überarbeiteten Auflage herausgebracht. Das Buch, 1948 begonnen und zuerst 1961 in Chicago erschienen, kann inzwischen auf eine eigene, über Jahrzehnte dauernde Geschichte zurückblicken. In den USA damals wenig wahrgenommen, wurde es in Deutschland fast völlig ignoriert; Bemühungen um eine deutsche Ausgabe scheiterten zunächst. Erst 1982 gelang es dem kleinen Olle und Wolter Verlag, auch dem deutschen Publikum eine Übersetzung zu präsentieren. Der Siegeszug des Werkes wie auch des Autors begann also erst in den 1980er-Jahren, insbesondere mit der überarbeiteten zweiten Auflage, die 1990 bei Fischer erschien. Seitdem wird der Hilberg oft zitiert, wenn auch selten komplett gelesen.
Das liegt sicher am Umfang des Buches, aber auch an seiner etwas sperrigen Struktur. Hilberg hat nämlich immer sein Vier-Stufen-Modell Definition - Enteignung - Konzentration - Vernichtung beibehalten, das dem Leser bisweilen einige chronologische und geografische Sprünge abverlangt. Und doch finden sich fast alle Themenfelder, die in der neuen Literatur diskutiert werden, auch hier schon, sei es die Beraubung der Juden, die Bedeutung der Zwangsarbeit oder die Rolle der Kollaboration.
Hilberg schreibt "Tätergeschichte", bezieht sich jedoch vor allem auf die Apparate und erst in zweiter Hinsicht auf die Täter selbst. Nach dem "Zerfall" der großen Erzählung in die vielen Regional- und Lokalstudien der letzten Jahre lenkt seine These vom einheitlichen Prozess der Vernichtung den Blick wieder auf das Ganze. Weiterhin steht allerdings nicht Hitler im Zentrum des Geschehens, sondern der deutsche Staat und seine - traditionellen wie auch neu geschaffenen - Institutionen, denen ein erhebliches Eigengewicht zugebilligt wird. Ohne Zweifel war der Antisemitismus das zentrale Motiv des Verbrechens, er verschaffte den Tätern Sinn für ihr Handeln.
Manche Analyse von 1961 erscheint nicht mehr ganz taufrisch, manches Detail wäre noch zu korrigieren. Dies im Einzelnen zu monieren wäre beckmesserisch. Für die dritte Auflage hat Hilberg eine Vielzahl von Dokumenten eingearbeitet, die in osteuropäischen Archiven lagern. Ergänzungen stammen auch aus westdeutschen und österreichischen Ermittlungsverfahren. Die Flut von Literatur, die in den letzten zwanzig Jahren erschienen ist, fand punktuell Eingang, vor allem in den systematischen Nachbetrachtungen. Die Ergebnisse von Hilbergs eigenem Buch "Täter, Opfer, Zuschauer" sind nun auch in das große Werk integriert. Erheblich erweitert wurde das Kapitel zu Entschädigung und Wiedergutmachung, das die Vorgänge bis in die 1990er-Jahre behandelt. Alles in allem dürften in der vorliegenden Auflage noch einmal einhundert Seiten dazugekommen sein.
Dies sollte Anlass genug sein, das Buch wieder in die Hand zu nehmen. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man Hilbergs Leistungen hier angemessen würdigen. The Destruction of the European Jews ist schlichtweg die herausragende Gesamtdarstellung der deutschen Politik zum Massenmord, es bleibt eines der wichtigsten Bücher zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Dieter Pohl