Andreas Holleczek / Andrea Meyer (Hgg.): Französische Kunst - Deutsche Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 7), Berlin: Akademie Verlag 2004, X + 452 S., 16 Farb-, 70 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-004019-6, EUR 39,80
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"Aber wahrlich! Das Licht über die französische Kunst kommt uns heutzutage aus Deutschland. Es vergeht kein Tag, ohne dass in Berlin oder München oder Düsseldorf oder Köln eine neue Ausstellung über einen neuen französischen Künstler eröffnet wird" (27). [1] Das schrieb Guillaume Apollinaire im Jahre 1914, ein aufregendes Spiegelverhältnis der gegenseitigen Kunstwahrnehmung zwischen Frankreich und Deutschland gleichsam benennend. Um dieses Spiegelverhältnis dreht sich die vorliegende Publikation.
Die von Andrea Meyer und Andreas Holleczek verfasste Studie ist als 7. Band in der Reihe Passages / Passagen des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris erschienen. Sie ist Teil eines von Uwe Fleckner, Martin Schieder und Thomas Gaehtgens herausgegebenen Komplexes, das unter dem Titel "Deutsch-französische Kunstbeziehungen. Kritik und Vermittlung" bereits mehrere Publikationen zählt. Dem dynamischen Kunsthistorikerteam am Place des Victoires geht es hier darum, im deutsch-französischen Spannungsfeld von Nation und Emotion kunsthistorische und kunstkritische Dimensionen aufzuzeigen. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei vornehmlich auf die Zeit zwischen 1870 und 1940. Zuletzt erschien in diesem Rahmen Distanz und Aneignung, eine von Alexandre Kostka und Françoise Lucbert herausgegebene Aufsatzsammlung. [2] Erwartet wird darüber hinaus, als Zwillingswerk zum vorliegenden Band, eine von Knut Helms und Friederike Kitschen herausgegebene Quellenanthologie zur französischen Darstellung deutscher Kunst in der genannten Zeitspanne. Als Basis dieser Arbeiten dient eine umfassende und systematische Dokumentation kunstkritischer Quellen, die seit kurzem als Datenbank auf der Website des Deutschen Forums für Kunstgeschichte abrufbar ist (Testversion). [3]
Diese publizistisch intensiv begleitete Erforschung der deutsch-französischen Kunstbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert - an sich kein Neuland - geht einher mit einer erfrischenden Neugier für Objekte, die bisher im Halbschatten standen. Das gilt im besonderen Maße für den vorliegenden Band, der sich mit dem Untertitel "Quellen und Kommentare zur Kunstkritik" Textnähe und kritisches Sezieren zur Aufgabe macht. Um es gleich vorwegzunehmen: Es gelingt Andrea Meyer und Andreas Holleczek, eine komplexe Quellenlage zu erfassen und in allen Sinnen des Wortes zugänglich zu machen, sie auf ihre national- und kunstgeschichtlichen Implikationen schlüssig zu befragen.
Wie wurde französische Kunst in Deutschland zwischen 1870 und den späten 1930er-Jahren dargestellt, erläutert und beurteilt? Die Frage klingt simpler als sie ist. Um sie zu beantworten, bemühen die Verfasser eine beträchtliche Auswahl kunstkritischer Texte aus verschiedenen deutschsprachigen Zeitschriften und Tageszeitungen. 38 Beiträge aus den Jahren 1872 bis 1939 werden hier teilweise oder ganz abgedruckt und erhellend kommentiert. Fast alle stammen aus bekannten kunstkritischen Organen - genannt seien hier beispielsweise Das Kunstblatt, Der Cicerone oder Der Kunstwart - sowie der nationalen und lokalen allgemeinen Presse - von der National-Zeitung bis zu den Bremer Nachrichten. Die Verfasser der ausgewählten Beiträge sind sowohl namhafte Protagonisten der Vermittlung zeitgenössischer französischer Kunst in Deutschland (etwa Julius Meier-Gräfe, Paul Westheim oder Carl Einstein), Essayisten und Feuilletonredakteure (z.B. Carl Wilhelm Theodor Frenzel), Künstler und Dichter (George Grosz oder Rainer Maria Rilke) als auch in Vergessenheit geratene oder anonym gebliebene Kritiker. Mit über der Hälfte der Texte liegt der zeitliche Schwerpunkt dieser anthologie raisonnée allerdings in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Kunstkritische Stimmen über Frankreich aus der Zeit der Weimarer Republik sind mit neun, im Nationalsozialismus formulierte Positionen mit nur drei Beiträgen dokumentiert. Diese zeitliche Gewichtung entspricht der von den Herausgebern festgestellten, im Laufe der Zeit schwindenden Berichterstattung über französische Kunst im deutschsprachigen Raum: "[Es] bleibt festzuhalten", so Andrea Meyer, "daß die Lebhaftigkeit, mit der man vor dem Ersten Weltkrieg die französische Kunst in Deutschland diskutiert hatte, [danach] nicht mehr vorwaltete" (33).
Ein großes Verdienst dieses Quellenbandes ist es, die ausgewählten und abgedruckten Texte nicht chronologisch sondern in sechs sinnvoll problematisierten Sektionen zu präsentieren. Die Wahrnehmung der Kunstmetropole Paris im deutschsprachigen Raum, die Kontinuitäten und Brüche in der Beobachtung und Bewertung der künstlerischen Prozesse im westlichen Nachbarstaat sind Thema des ersten, von Andrea Meyer eingeleiteten Kapitels. Im zweiten Kapitel geht es Andreas Holleczek um den "gesuchten Unterschied" (85), um eine sprachwissenschaftlich geprägte Beleuchtung von rhetorischen Merkmalen und immer wieder kehrenden Argumentationsmustern, mit denen auf kunstkritischer Ebene der französische Nationalcharakter - und somit der deutsche - gekennzeichnet wurden: "Jedem Begriff entspricht ein Gegenbegriff", so Holleczek, "mit dem sich die deutsche Kunst in Abgrenzung von der französischen charakterisieren läßt" (85). Dass die angewandte Begriffssystematik erstaunlich flexibel gewesen sei und "wenig den Tatsachen der künstlerischen Produktion" entsprach, wird hier durch die geschickte Auswahl der Quellen überzeugend beleuchtet.
Thema des dritten Kapitels sind die in der jungen deutschen Nation geführten Debatten zum Nutzen und Nachteil der langen künstlerischen Tradition in Frankreich. Dann geht es monografisch zu: Monet, Rodin, Manet, Picasso, Matisse und Cézanne - das sind die französischen Künstler, an deren Beispiel Andrea Meyer im vierten Kapitel zeigt, wie "die tiefgreifenden Kanonverschiebungen" in Frankreich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts "in Deutschland nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern aktiv vorangetrieben" wurden (204). Ihre subtilen Überlegungen zum "Kanon" setzt Andrea Meyer im fünften Kapitel mit der Feststellung fort, dass der Stilpluralismus der zeitgenössischen Kunst in Frankreich, dieses breite Spektrum vom Salon bis zur Avantgarde, in der deutschen Kunstkritik der Jahre bis zum Nationalsozialismus ebenso pluralistisch wiedergegeben wurde (274). Im letzten Kapitel beschäftigt sich Andreas Holleczek schließlich mit der Art und Weise, wie die methodologischen Ansätze der französischen Kunstkritik von deutscher Seite beobachtet und teilweise kritisiert wurden.
Dass dieser Band dem von Michel Espagne, Hans-Jürgen Lüsebrink und anderen entwickelten Forschungskonzept des Kulturtransfers viel verdankt, muss hier nicht lange erörtert werden. Durch die nicht zuletzt stilistische Qualität der Kommentare und Einleitungen leistet er seinerseits einen wichtigen Beitrag zu diesem fruchtbaren Forschungsfeld - aber auch zu Nachbarfeldern, wie beispielsweise der Geschichte von Ausbildungseinrichtungen (etwa 13), der Erforschung von Metropolen-Mythen (ab 78) oder einfacher der Geschichte der Kunstgeschichte. Insgesamt verbinden Meyer und Holleczek geschickt kunsthistorische Fragestellungen und Methoden mit einer politisch-kulturhistorischen Problematik. Die in den Einleitungskapiteln und Kommentaren kontextualisierten Informationen zu den Autoren der ausgewählten Texte und den Zeitschriften, die sie veröffentlichten, werden allen, die sich mit Fragen der grenzüberschreitenden Vermittlung von kunstkritischen Informationen beschäftigen, äußerst willkommen sein. Der Spezialist wird darüber hinaus die Fähigkeit der Verfasser bewundern, ein hochpolemisches Textmaterial, das leicht zu schwarz-weiß Lektüren oder der ernüchternden Feststellung einer Willkürlichkeit der formulierten Positionen verleiten könnte, in all seinen Graustufen und Nuancen darzustellen.
Last but not least sei auf die elegante Gestalt des Paperbackbandes hingewiesen, das durch ein klares Layout, Farbtafeln und - vor allem - die Wahl zweier unterschiedlicher Schriftarten für Quellen und Kommentare, eine durchweg angenehme Lektüre bereitet.
Anmerkungen:
[1] Originalzitat in französischer Sprache; hier Übersetzung der Rezensentin.
[2] Vgl. hierzu die Rezension von Beatrice Joyeux in sehepunkte 5 (2005), Nr. 2, URL: http://www.sehepunkte.de/2005/02/7301.html.
[3] Die Testversion der Forschungsdatenbank "Die französische Kunst in deutschen Zeitschriften - Die deutsche Kunst in französischen Zeitschriften" unter der URL: http://proweb.dfkg.dyndns.dk/(w5liajrww4hd1qi0odigw3r1)/Index.aspx?L=1&P=1,2.
Bénédicte Savoy