Tobias Kies: Verweigerte Moderne? Zur Geschichte der 'Salpeterer' im 19. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 9), Konstanz: UVK 2004, 505 S., ISBN 978-3-89669-724-0, EUR 49,00
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Das Entzaubern von Mythen wird auch von der historischen Forschung immer wieder gerne versucht; nicht immer sind derartige Unterfangen jedoch von Erfolg gekrönt. Eine ausgesprochen gelungene Entzauberung hat jedoch Tobias Kies mit dem anzuzeigenden Buch vollbracht, das auf einer 2002 an der Universität Bielefeld bei Ute Frevert angenommenen Dissertation basiert. Seine Untersuchung gilt den badischen "Salpeterern" im 19. Jahrhundert, die bislang insbesondere von der heimatkundlichen, aber auch der landesgeschichtlichen Forschung als heroische Widerstandskämpfer gegen staatliche wie kirchliche Institutionen gefeiert worden sind. Bis in die jüngste Zeit wurden und werden sie immer wieder eifrig als politische Vorbilder bemüht, wenn es galt und gilt, Protest gegen höhere Stellen - egal welcher Couleur - anzumelden.
Historisch geht der Mythos auf mehrere Erhebungen von Bauern der Grafschaft Hauenstein zwischen 1726 und 1745 zurück. Sie rebellierten mit Bezugnahme auf tradierte Einungsrechte gegen ihre vorderösterreichischen Landesherren, die ihrerseits ihre Landeshoheit auszubauen suchten. Diese Widerstandsbewegung wurde nach einem ihrer ersten Anführer "Salpeterer" genannt; die Aufstände endeten mit einer vernichtenden Niederlage der Bauern und der Deportierung zahlreicher Familien ins Banat. Als es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der nunmehr badisch gewordenen Grafschaft Hauenstein wiederum zu Widerstandshandlungen gegen staatliche und kirchliche Institutionen kam, griffen Amtsträger, Politiker wie auch die Öffentlichkeit auf das Bild vom renitenten Salpeterer zurück, um die neue Situation einzuordnen. Diese Einschätzung wurde auch mehr oder weniger kritiklos von der Forschung übernommen.
Das Anliegen des Autors ist es, diese Einordnung zu hinterfragen und das "Spannungsverhältnis zwischen diskursiver Zuschreibung und sozialer Praxis zu verorten" (13). Als theoretische Grundlage dient ihm dabei das Modell der Modernisierung als "Kolonialisierung der Lebenswelt" nach Habermas. Die Widerstandshandlungen im Hauensteinischen seien demzufolge weniger durch die badische Integrationspolitik provoziert worden, die mit administrativen, fiskalischen und rechtlichen Reformen das heterogene Staatsgebilde zusammenzufassen suchte. Stattdessen riefen außergewöhnliche und dafür weitergehende Eingriffe in die Lebenswelt der Menschen deren Renitenz hervor, die sich in erster Linie in einer passiven Widerstandshaltung äußerte. So kam es anlässlich von Rekrutenerhebungen im Jahr 1813 zu Verweigerungen und Desertionen, die nur mit massiven amtlichen Drohungen und Militäreinsätzen ausgehebelt werden konnten. Die in diesem Zusammenhang nach Karlsruhe gemeldete Einschätzung der Widerständler als "Salpeterer" war daraufhin in den Köpfen ständig präsent.
Dieses Bild schien auch die weitere Entwicklung zu bestätigen. Meistens, wenn sich die Hauensteiner einer Bedrohung ihrer engeren Lebenswelt ausgesetzt sahen, reagierten sie mit passivem Widerstand. So wurden staatliche Impfprogramme boykottiert, Huldigungen gemieden oder Steuern verweigert - meist unter Berufung auf tradierte Rechte, die sie auf die alte Einungsverfassung der Grafschaft Hauenstein zurückführten. Widerstand gab es auch gegen die Kirchenreform des katholischen Konstanzer Bistumsverwesers von Wessenberg. Im Sinne der Aufklärung suchte dieser seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Liturgie umzugestalten und Brauchtümer und Frömmigkeitspraktiken, die er als abergläubisch einstufte, zurückzudrängen. Viele Hauensteiner reagierten mit Kirchenboykott und dem Festhalten an alten Brauchtümern. Zu einer sukzessiven Entspannung kam es erst zu Beginn der 1830er-Jahre. Nachdem Kies zufolge in den vorangegangenen Jahren eine "Pattsituation zwischen Obrigkeit und Untertanen" entstanden war, wurde staatlicherseits ein Überschwappen der französischen Revolutionsbewegung nach Baden befürchtet. Dies führte dazu, dass nun verstärkt Kompromisslösungen gesucht wurden. Mehr Verständnis für die lokale politische Kultur, vor allem aber ein Abebben des kirchlichen Reformeifers hatten zur Folge, dass die Konfliktbereitschaft der "Salpeterer" nach und nach gebändigt werden konnte.
Der Autor unterfüttert seine Studie mit einer statistischen Untersuchung der Personen, die in den amtlichen Quellen als "Salpeterer" bezeichnet wurden. Insgesamt handelt es sich dabei um 338 Personen, die schwerpunktmäßig in den 1790er-Jahren geboren wurden, mithin weitgehend einer Generation angehörten. Eine Organisationsform analog zu den kommunalen Einungen im 18. Jahrhundert hatten sie nicht, genauso wenig einen Sprecher. Allenfalls kann von einem äußerst losen Netzwerk gesprochen werden. Eine bewusste Anknüpfung an die Aufstandsbewegung der Salpeterer im 18. Jahrhundert existierte nach Ausweis der Quellen bei ihnen nicht. Dieses Bild wurde stattdessen von außen auf die Hauensteiner projiziert. Erst amtliche Verlautbarungen, vor allem aber literarische Abhandlungen wie die des badischen Schriftstellers Viktor von Scheffel, der sie als volkstümliche badische Kuriosität beschrieb, erzeugten den historisch gewordenen Mythos der Salpeterer im 19. Jahrhundert. Sich selbst sahen sie in der Tradition der altrechtlich privilegierten Bewohner der Grafschaft Hauenstein verwurzelt, deren Rechte wie auch deren Lebenswelt durch Staat und Kirche bedroht wurden.
Es ist das Verdienst des Autors, die Hauensteiner Widerstandsbewegung gegen die staatliche Modernisierungspolitik aus der volkstümlichen Mottenkiste herausgeholt und in einen größeren landesgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet zu haben. Da die Integrationsproblematik des badischen Staatswesens und die damit verbundenen inneren Konflikte bislang in erster Linie mit Bezug auf den Adel oder die Städte oder aber im Zusammenhang mit der Revolution 1848 analysiert wurde, hat seine Studie einer ländlichen Bevölkerungsgruppe Vorbildcharakter.
Harald Stockert