Michaela Marek: Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 512 S., 145 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-14202-5, EUR 69,00
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Wohl kaum ein Themenbereich der Kunst des 19. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren stärker in den Blickpunkt geraten als die Frage nationaler "Identität(en)". Die Emanzipation der Tschechen im 19. Jahrhundert gilt als Modellfall der Formierung einer Nation als staatslose "Sprach- und Kulturnation". Dieser Prozess vollzog sich innerhalb des habsburgischen Vielvölkerstaates in direkter Konkurrenz mit der deutschsprachigen Gesellschaft, ihrer Kultur und Politik in Böhmen und der Monarchie, aber ohne staatliche Eigenständigkeit anzustreben. Besonders seit der Untersuchung von Storck steht die damit angesprochene Frage im Blickpunkt der Forschung. [1] Die Beziehung von Kunst und Identitätspolitik an konkreten Beispielen der tschechischen Kunst des 19. Jahrhunderts abgehandelt zu haben, ist das Verdienst der vorliegenden gedruckten Fassung der Habilitationsschrift von Michaela Marek (Universität Leipzig), in der sowohl der theoretische Identitätsdiskurs als auch die historisch-kritische Forschung als souverän gehandhabte methodische Instrumentarien fungieren.
Mit "Identität" hängt ursächlich die von Heidrun Friese gestellte Frage zusammen, "wie etwas über die Zeit und die Veränderung hinweg dennoch gleichbleiben kann?" [2] Identitätserhalt bedeutet somit die ständige Arbeit an der Aufrechterhaltung von (faktischen und fiktiven) Kontinuitäten. Die wie immer geartete "Nation" ist mit dem Begriff "Identität" untrennbar verbunden: Sie lebt nur, indem sie ihre Vergangenheit wiederaufleben lässt. Die Imaginationen nationaler Gemeinschaften sind angewiesen auf die Vorstellung einer in die Tiefe der Zeit zurückreichenden und aktualisierbaren Kontinuität. Michaela Marek baut ihre Arbeit auf einem weitgehend historisch und kulturwissenschaftlich geprägten Identitätsbegriff auf, der nicht als eindeutig festgelegter Bewusstseinszustand anzusehen ist, sondern historisch und sozial-prozesshaft "produziert" wird (8). Mit der Dichotomie der Demonstration nationaler Eigenart und der Artikulation des Anspruchs auf Ebenbürtigkeit und Überregionalität (im Sinn der Konkurrenzfähigkeit im europäischen Kunstwettbewerb der zweiten Jahrhunderthälfte) formuliert Marek ein - ihre gesamte Arbeit prägendes - methodisches Credo (9). In diesem komplexen Spannungsfeld - und eben nicht in der Suche nach nationaler und regionaler Exklusivität - spielt sich, Marek zufolge, "Kunstpolitik" ab. Die Rolle der bildenden Kunst im Rahmen der Visualisierung von Identitätsstrategien beschränkt sich - wie die Autorin deutlich machen kann - nicht auf die bloße Abbildung sprachlicher und politischer Muster, sondern muss im "spezifische(n) Potential visueller Künste" (12) und der damit verbundenen Unabhängigkeit von sprachlichen Barrieren beziehungsweise in einer generellen Reduktion von (sprachlich formulierter) Komplexität gesucht werden.
Die Übersicht über das schwierige Thema wird dem Leser durch die Auswahl einiger Beispiele erleichtert, die von Marek gründlich abgehandelt werden. Die entsprechenden Quellen werden dabei nicht nur zitiert, sondern im größeren Argumentationsrahmen anschaulich kontextualisiert. Zu den ausgewählten Werken gehören die Prager Kaiser-Franzens-Kettenbrücke (1839-1841), der Umbau des Altstädter Rathauses in Prag (1844-1848, Paul Sprenger und Hermann Bergmann) sowie - als Hauptbeispiele - Planung und Ausstattung des Prager Nationaltheaters (nach dem Plan von Josef Zítek, 1866; endgültig im Jahr 1883 eröffnet) und des "Museums des Königreiches Böhmen" am Prager Wenzelsplatz (Josef Schulz, 1891). In der Spannweite dieser Monumente werden vor allem die ständigen Konfliktsituationen zwischen böhmischem "Landespatriotismus" und habsburgischem "Gesamtstaat" transparent, beispielhaft in der Diskussion der gotischen Stilwahl beim Prager Veitsdom und Altstädter Rathaus (58f.). Der latente Machtkampf zwischen Landes- und Staatsautorität wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass die Habsburgerregenten in ihrer Funktion als böhmische Könige auch das Königreich Böhmen verkörperten (wie dies auch in der Ausstattung des Nationalmuseums deutlich wird), somit der Status als Kronland nur eine Seite der historischen Medaille darstellt (Ähnliches ließe sich für Ungarn und der Funktion Franz Josephs I. als "neuer" Árpád zeigen). Marek stellt die verwirrende Bau- und Ausstattungsgeschichte des Nationaltheaters, eines nationalen "Integrations- und Repräsentationsobjekt(s)" (92) höchster ikonologischer Dichte mit bewundernswerter Quellenkenntnis dar. Die Autorin sieht in der sich hier manifestierenden Dichotomie von "nationaler" Leistung beziehungsweise Ikonografie (zum Beispiel Ausstattung der Königsloge) und als "internationaler" Modus verstandener Kunstsprache (Rückgriff auf die Renaissance) ein Spezifikum der tschechischen Kunst im 19. Jahrhundert (136). Das Theater war an die deutsche Gesellschaft in Böhmen adressiert wie auch an die Vertreter des "Gesamtstaats" in der Reichs- und Residenzstadt Wien, deren Hofoper im Neorenaissancestil eine wesentliche Orientierungsgröße darstellte. Die spezifische Konzeption des Prager Nationaltheaters war letztlich ein Garant für die angestrebte soziale und politisch notwendige Verortung des Bauwerks. Auch in der Ausstattung standen die Apotheose nationaler Geschichte (Ausstattung des Foyers) und Rückgriffe auf die humanistische Kulturtradition in einem wohl ausgewogenen Verhältnis.
Auf der Basis dieses Hauptbeispiels ihrer Publikation kann Marek eine wichtige Differenzierung der Funktion von "Nationalkunst" im 19. Jahrhundert vornehmen (256-272), die durch die bewusste Anwendung pluraler Codes (als nationale und internationale "Verständlichkeit" beziehungsweise Akzeptanz von Stilmodi) danach strebt (beziehungsweise streben muss), sich aus (politischen und sozialen) Defensivpositionen zu befreien und eine entsprechende Rezeption in der Öffentlichkeit zu erzielen. Mit den "Argumenten" des Einsatzes verschiedener Stilmodi und differenziert gestalteten Ausstattungsprogrammen erfüllt die bildende Kunst die wichtige Rolle, politische "Identitätsstrategien" zu untermauern oder zu legitimieren - gleichsam der "Nationalstil" als "Ziel" und/oder "Erfüllung" von kulturell dimensionierten Nationalbildungsprozessen (318). Die "Rhetorik der Stilwahl" (Kapitel C. 4) ist auch hinsichtlich des böhmischen Nationalmuseums die bestimmende Grundfrage. Aus der vielschichtigen Geschichte des "Landesmuseums" mit den Anfängen in František Palackýs Konzept des "Francisceum" skizziert die Autorin die Entwicklung der nach dem Ende des Neoabsolutismus auflebenden Idee eines Museumsneubaues in Prag, der in der endgültigen Realisierung sowohl staatsloyale Elemente eines "Loyalitätsgestus" (345) Habsburg gegenüber als auch wohldosierte landespatriotische Akzente in der Ausstattung ("Pantheon") enthält. Ähnlich wie im Fall des Nationaltheaters werden hier sich überlagernde Codierungen böhmischer Staatlichkeit, des Nachweises von Gelehrsamkeit und der Bezugnahme auf den habsburgischen Staat als (ständig präsenten) "Bezugsrahmen" (390) deutlich.
Identität ist, so Jan Assmann, vor allem eine "Sache des Bewußtseins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes". [3] Zugleich besitzt Identität historisch nur als plurale tantum einen Sinn und setzt prinzipiell die Existenz anderer Identitäten voraus. Michaela Marek hat wichtige Fragestellungen der Kulturwissenschaften für die Kunstgeschichte fruchtbar gemacht. Mit ihrer Publikation hat sie einen methodischen Eckpfeiler eingeschlagen, der bei allen zukünftigen Projekten zum Themenkreis "Kunst und Identität" nicht übersehen werden darf.
Anmerkungen:
[1] Christopher P. Storck: Kulturnation und Nationalkunst. Strategien und Mechanismen tschechischer Nationsbildung von 1860 bis 1914. Köln 2001.
[2] Heidrun Friese: "Identität: Begehren, Name und Differenz". In: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten (Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Band 3), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1999, 24-43, hier 31.
[3] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, 130.
Werner Telesko