Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hgg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Beiheft 35), München: Oldenbourg 2003, 171 S., ISBN 978-3-486-64435-7, EUR 34,80
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Es war eine hervorragende Idee der Herausgeber, das Epochenkonzept "Frühe Neuzeit" in Auseinandersetzung mit Einteilungen innerhalb der Geschichtsablaufmodelle anderer Disziplinen und nicht-europäischer Regionen zu vergleichen, wozu im Dezember 2001 der Lehrstuhl sowie das Zentrum für die Erforschung der Frühen Neuzeit in Frankfurt am Main zu einer Tagung eingeladen hatten. Epochenbegriffe seien im Laufe der letzten Jahrzehnte in der Diskussion "radikal entontologisiert" (1) worden, was eine Verständigung über Legitimität und Leistung der Epocheneinteilung erneut brisant mache, begründen die Herausgeber in ihrer Einleitung den Tagungsband. Natürlich hätte man auch die Subdisziplinabgrenzungen der "Zeitgeschichte" oder der Historie des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand machen können. Den Herausgebern schien aber, offenbar auch hochschulpolitisch motiviert, die Infragestellung der "Frühen Neuzeit" am brisantesten.
Zunächst behandelt Ulrich Muhlack als ein Vertreter der "eigenen Frühen Neuzeit", diese Epoche "als Geschichte des europäischen Staatensystems" (23-42). Auch wenn er natürlich die Auffassung von der grundsätzlichen Arbitrarität und Konstruktivität von Epochenschnittsetzungen teilt, sieht er doch in der Entstehung eines Systems pluraler, konkurrierender Staaten, dem so genannten "europäischen Staatensystem" um 1500/1600 eine Zäsur, die das neuzeitliche Europa vom christlichen Mittelalter trenne, während umgekehrt nach vorne hin die Zäsur um 1800 mit der entscheidenden Transformation in ein System von Nation(alstaat)en einen so deutlich anderen Charakter erhalte, dass die Abtrennung der Frühen Neuzeit im Hinblick auf die Region Europa und diese primär "außenpolitische" Einheit des Staatensystems durchaus Sinn mache.
Matthias Midell gibt einen essayistischen Überblick zur marxistischen Historiografie, innerhalb derer die "Frühe Neuzeit" als Epochenkategorie keinen spezifischen Ort habe. Für Marx selbst war die entscheidende Schwelle um 1800 mit der "bürgerlichen Revolution" gegeben, die Geschichte ordnete sich auf diese als Vorgeschichte hin, das Interesse galt nicht der Ereignisgeschichte, sondern der Ausbreitung des Kapitalismus und dann der bekannten Stufenfolge von Gesellschaftsentwicklungen. Das Konzept der "frühbürgerlichen Revolution" der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR mag die zeitlich-thematische Antwort auf das Frühe-Neuzeit-Konzept gewesen sein.
Margarete Schlüters Beitrag zur Epochenbegrifflichkeit im Rahmen der jüdischen Geschichte und Historiografie zeigt dann zum ersten Mal in diesem Band die volle Problematik des Frühneuzeitbegriffs auf: Zwar orientiert sich die deutschsprachige Historiografie zur jüdischen Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert an der Periodisierung zur "allgemeinen" deutschen Geschichte und kennt so auch Pendants zur "Frühen Neuzeit" [1], schon seit Salo Wittmayer Baron wird diese Konzeption aber brüchig [2]; nur eine "prä- und postemanzipatorische" Epoche kann ausgemacht werden, und zumal nach der Shoa, der Staatsgründung Israels und den erneut großen Migrationsbewegungen könne nur noch von "vielen jüdischen Geschichten" [3] die Rede sein, für die dann eine Kategorie "Frühe Neuzeit" kaum mehr Sinn macht - jedenfalls lässt sich hier offenbar kein Forschungskonsens feststellen.
Für ein nicht-deutsches, europäisches Beispiel und zugleich für eine andere Disziplin, die Literaturwissenschaft, stehen die miteinander verbundenen hispanistischen Beiträge von Friederike Hassauer und Marlen Bidwell-Steiner zum "Goldenen Zeitalter" Spaniens: Gab es eine Renaissance und gab es eine Aufklärung in Spanien, die dann, entsprechend der Kategorie der "Frühen Neuzeit" die Abtrennung eines Segmentes (etwa 1500-1800) aus literaturwissenschaftlicher Perspektive legitimierte? Während Victor Klemperer die Erkennbarkeit einer solchen ersten Epochenschwelle für Spanien 1927 strikt verneinte, umgekehrt die spanische Forschung vehement die Existenz einer anderen, eigenen Renaissance reklamiert(e), führt Hassauer als heuristisches Hilfsmittel das Luhmann'sche Evolutionsmodell der Epochenbildung ein, auf das zurückzukommen ist. Nach Vorstellung des Modells geht es im Wesentlichen um die deskriptiv-analytische Identifizierung von Differenzkriterien in literarischen Werken, um dann Epochenscheiden in Korrelation zu sozialhistorischen Veränderungen markieren zu können.
Suraiya Faroqhi stellt die "Formen historischen Verständnisses in der Türkei" vor: In der jüngeren Zeit orientierten sich die Diskussionen über Epochenzäsuren an der Frage, wann das Osmanische Reich aus einer eher autarken Situation in eine Peripherie des kapitalistischen Weltsystems im Sinne Wallersteins transformiert wurde. Daneben läge weiterhin - angesichts einer politisch-wirtschaftlich jeweils weitgehend gleichläufigen Entwicklung - die Abschnittsfolge Gründungsphase (bis 1453), Expansion (1453-1575), Krisen und Stabilisierungen (1575-1768), neuerliche Krise (1768-1830) und Kontraktion (1830-1918) nahe. Eine "Frühe Neuzeit" scheint sich hier weniger herauszuschälen, jedenfalls hätte sie wohl eine ganz andere semantische Füllung. Zwar herrscht über eine elementare Zäsur (1453) Einigkeit und natürlich auch über jene der Atatürk-Staatsgründung; aber ganz deutliche Zäsuren zwischen diesen Eckdaten scheinen nicht auf der Hand zu liegen. Kulturgeschichtlich bieten sich hier noch das frühe 18. Jahrhundert oder noch deutlicher 1850/75 an, als "die ersten Erzählwerke, die man als Romane bezeichnen kann", entstanden (119).
Ralf Elger stellt Innovationen in der arabischen autobiografischen Literatur im 16./17. Jahrhundert fest. Epochal ist die Zäsur um 1516 mit dem Übergang der Fremdherrschaft über die arabische Welt im Vorderen Orient von den Mameluken auf die Osmanen nicht zu leugnen. Eine autobiografische Wende in den Texten aus Bilâd ash-Shâm ab dem 16., verstärkt ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, scheint sich anzudeuten. Etwas unklar bleibt, wie diese Beobachtung mit "Früher Neuzeit" oder Periodisierung im Allgemeinen zu verknüpfen wäre.
Achim Mittag schließt den Sammelband mit der Frage nach den Periodisierungsusancen in der chinesischen Historiografie. Er konzentriert sich dabei auf die Schriften der zwischen etwa 1850 und 1880 geborenen Generation chinesischer Historiker. Während zuvor und zum Teil bis heute die Einteilung der Geschichte nach den Herrscherdynastien vorherrschend war, traten nun Reaktionen im Geschichtsbild aufgrund von Westkontakt oder Verwestlichungselementen auf: Man versuchte, Parallelen zur europäischen Mittelalter / Renaissance-Stufung zu entdecken. Die insbesondere außerhalb Chinas berühmte These Naitô Konans von 1914, wonach die Neuzeit Chinas in der Zeit "von der späten Tang- bis zur späten Nördlichen Songy-Dynastie, also von ca. 800-1100" (154) begann, da die Aristokratie im Wesentlichen durch die imperiale Despotie der Kaiser mediatisiert wurde, fand in China selbst wenig Echo. Andere Historiker diskutierten die Epochenfrage anhand des Kriteriums der Beziehungen Chinas zu seiner Außenwelt. Schließlich wurde die Übertragung des marxistischen Fünf-Stadien-Modells auf den Sonderfall China immer wieder diskutiert.
"Zur Überraschung der Herausgeber/innen" (7), so fassen diese in der Einleitung zusammen, sei die "Frühe Neuzeit" doch nicht nur ein Modell der europäisch-westlichen Geschichtsunterteilung, sondern werde für viele Kulturkreise diskutiert. "Die erwartete geografische und kulturelle Beschränktheit des Begriffs fand empirisch gerade keine Bestätigung [...]. Ist die Frühe Neuzeit wider Erwarten doch ein brauchbares Konzept für eine Welthistorie?" (7).
An diesem Punkt darf man nach der Lektüre des Tagungsbandes kritisch einhaken und einige Defizite benennen: Abgesehen davon, dass vielleicht die "Original-Stimmen" von nicht in Deutschland arbeitenden Historikern befruchtend gewesen wären, fehlt dem insgesamt doch knappen Band jenseits der sehr anregenden Einleitungsbemerkungen (1-7) ein stärker systematisierender Zugriff. Hier ist auch misslich, dass in dem nachweislosen Einleitungsessay der Herausgeberinnen und Herausgeber der Dialog mit den seit 15-30 Jahren geführten Diskussionen zur "eigenen", insbesondere mitteleuropäischen Frühen-Neuzeit-Kategorie, welche nach einer Ausdifferenzierung des allgemeinen Geschichtsbildes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wörtlich wohl 1939 zum ersten Mal von Otto Brunner benutzt wurde, nicht aufgenommen wurde. Wichtiger noch ist das Fehlen einer abstrakten zeit- oder geschichtssoziologischen oder -philosophischen Reflexion zum Problem der Epochenbildung von "Geschichte" im globalen Kontext. In Hassauers Aufsatz wird hier (neben Marx im Middell'schen Beitrag) als einziges eine Version der sich zwischen 1970 und 1997 durchaus ändernden Luhmann'schen Konzeption des evolutionären Wandels im Verhältnis von Gesellschaftsstruktur, Medien und Semantik als haltgebend erwähnt. Dieses gehaltreiche Modell aus dem deutschsprachigen Raum reformuliert bekanntlich systemtheoretisch im Kern die Grundannahmen der historischen Makrosoziologie überhaupt, mindestens seit Durkheim, indem Gesellschaftstypen unterschieden werden. Im Luhmann'schen Falle sind dies Gesellschaften mit dominant segmentärer, stratifizierter oder funktionaler Differenzierungsform. Historische Epochenbildung wird also auf einer bestimmten Ebene entzeitlicht, von Ereignissen losgelöst und in den Vergleich von Gesellschaftsstrukturmustern überführt, und es wird dann nach der Korrelation der (Selbstbeschreibungs-)Semantiken zu diesen Strukturen gefragt. "Frühe Neuzeit" wäre hier die Benennung gerade eines Prozessabschnitts der Entwicklung vor der Irreversibilität der Umstellung auf funktionale Differenzierung. Die seit längerem diskutierten Anfragen an dieses Konzept - Übertragbarkeit von "Evolution" auf kulturell-gesellschaftliche Bereiche nicht nur als Metapher? Fruchtbarkeit des Systembegriffs? Kategoriale Unterscheidbarkeit von Struktur und Semantik? - werden bei Hassauer nicht mitgeführt.
Der Sache - nicht der Luhmann'schen Begrifflichkeit - nach steht ein solcher qualitativer Gesellschaftsform-Vergleich letztlich hinter allen Epochendiskussionen und -angeboten gerade auch in den jüdischen, türkischen und chinesischen historiografischen Werken des 19./20. Jahrhunderts, die in den Beiträgen des Sammelbands exemplarisch für die außereuropäischen Regionen erwähnt werden: Im Verwestlichungs- oder Globalisierungsprozess führen all diese Gesellschaften notwendig eine vergleichende Diskussion über ihre Geschichte als Erinnerungsraum von autarker, nicht autarker, von erfolgter, nicht erfolgter, verpasster, anderer, fast gleicher (...) Moderne-Entstehung bzw. West-Kongruität. Oder sie lehnen dezidiert diese Epochenschemata - von Altertum / Mittelalter / Neuzeit bis zu segmentär / stratifiziert / funktional - als "westliche" Selbstwahrnehmungsmuster ab, befinden sich dann aber automatisch in der Zwickmühle der antithetischen Bezugnahme eben doch auf diese Modelle. Man entrinnt den Geschichtsschemata der globalen Moderne nicht. Das gilt auch für die jüdische Geschichte, wenngleich es sich nicht um eine regional von Europa entfernte Gesellschaft, aber doch um lokal enklavierte Gruppen handelte, deren "Emanzipation" vielleicht eben genauso ein Modernisierungs- / Globalisierungselement ist, wie die "Europäisierung" nicht-europäischer Regionen und Kontinente. Wenn also am Ende des Sammelbands die Überraschung über die empirischen Zeugnisse der (dem Rezensenten freilich ganz so klar nicht immer nachvollziehbaren) weltweiten Verbreitung des Konzepts einer Zwischenstufen-Epoche "Frühe Neuzeit" steht, so fordert der Sammelband eigentlich erst zur Systematisierungsarbeit auf: nämlich, was denn dann transregional oder gesellschaftsgruppenübergreifend als "Frühe Neuzeit" (oder allgemeiner: als Zwischenstufenepoche) inhaltlich übrig bleibt und wie sich hier die Geschichtsbilder von Gesellschaften mit endogener "Moderne"-Entstehung (laut Soziologie: nur Europa / der Westen) zu solchen mit tendenziell exogen induziertem Anschluss an sowie Akkomodation und Eigenausformung von "westlichen" Modernitätsformen zueinander verhalten. Sie fordert zu zeitsoziologischen Vergleichen von "Eigenzeiten" [4] und Synchronisierungsvorgängen auf. Dass er zu solchen Überlegungen anregt, ist ein großes Verdienst des Sammelbandes.
Anmerkungen:
[1] Jost, Graetz, dann v.a. Dubnow mit Abgrenzung der Epochen Mittelalter, "Neuzeit erste Periode" 1498-1648, "Neuzeit zweite Periode", 1648-1789 und "Neueste Geschichte" (Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, übers. A. Steinberg, 10 Bde., Berlin 1925-1929).
[2] Salo Wittmayer Baron: A Social and Religious History of the Jews, 3 Bde., New York 1937 (überarb. Neuaufl., 27 vol. in 18 Bden., New York / Philadelphia 1952-1983; Index 1993).
[3] Michael Brenner: Von einer jüdischen Geschichte zu vielen jüdischen Geschichten, in: ders. / David Myers (Hg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloss-Elmau-Symposion, München 2002, 17-35.
[4] Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1989.
Cornel Zwierlein