Christian Wipperfürth: Von der Souveränität zur Angst. Britische Außenpolitik und Sozialökonomie im Zeitalter des Imperialismus (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 54), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 473 S., ISBN 978-3-515-08517-5, EUR 78,00
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Die Forschungen über die internationalen Beziehungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges befinden sich bereits seit Jahren in Bewegung. Dies gilt namentlich nicht nur für das Kaiserreich, sondern vor allem auch für die Politik Britanniens. Christian Wipperfürths ambitionierte Studie zu den Motiven britischer Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus bestätigt diesen Trend.
Wipperfürth überzeugt zunächst mit seinem sicheren Gespür für die noch verbliebenen Forschungslücken, die er gleich zu Beginn seiner Arbeit benennt. So weist er u. a. zu Recht darauf hin, dass die britische Außenpolitik vor 1914 in der Regel sehr einseitig als 'bloße Reaktion' auf die aggressive deutsche Außenpolitik bewertet werde und dass irrationale Motive hauptsächlich nur bei den Mittelmächten ausgemacht würden, während in Britannien ein nüchterner Realismus gewirkt habe. Dagegen sei die Innenseite britischer Weltpolitik, wie der allgemeine Rechtsruck liberale Maximen verfechtender Politiker, bis heute unterbelichtet geblieben.
Mithilfe eines "umfassenden Ansatzes" aus "außenpolitischen, ideologischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und individual- und sozialpsychologischen Entwicklungen" (9) versucht der Autor, seinem enormen Themenkomplex Herr zu werden. Obwohl er dabei oftmals die richtigen Fragen stellt und einige Bereiche, wie den der britischen Flottenrüstung, gekonnt gegen den Strich zu bürsten vermag, kann seine Arbeit in ihrer Gesamtanlage jedoch nur wenig überzeugen. Ein Grund dafür ist, dass sich Wipperfürth mit dem sich selbst auferlegten Programm übernimmt und nicht den notwendigen Mut zur Lücke aufbringt. Seine Studie möchte einfach zu viel erklären: Liberale Maximen, konservative Außenpolitik, internationale Krisenherde, aristokratisches Bewusstsein und nicht zuletzt auch Kriminalität, Sexualität und Schulwesen etc. Die Folge ist, dass oftmals für Erklärungen durchaus wichtiger und diffiziler Aspekte kaum mehr als drei Seiten Platz bleibt und so vielfach Gemeinplätze der Forschung das Ergebnis bilden. Statt sich auf einige herausragende Einzelphänomene zu konzentrieren, verliert sich die Arbeit in zu vielen Einzelheiten.
So interessiert Wipperfürth z. B. bei Salisbury vielmehr dessen Humor und Vorliebe für den Magnetismus und die Elektrizität (52) als dessen gesellschaftliche oder außenpolitische Vorstellungen. Dabei hatten gerade Letztere, wie Andrew Porter feststellte, auch die Funktion, eine weitere Demokratisierung zu verhindern. [1] Statt sich auf einzelne Politikfelder zu konzentrieren, arbeitet sich Wipperfürth zunächst einmal mühsam in 25, notwendigerweise äußerst knapp gehaltenen Kapiteln an den internationalen Ereignissen zwischen 1875 und 1906 ab. Sicher gelingt es ihm dabei, die weltpolitischen Dimensionen der britischen Interessen zu verdeutlichen, die angestrebte Rückbindung an die britische Innenpolitik erfolgt jedoch nur selten. Zu kurz sind seine Ausführungen, um zu überzeugen, zu lang, um noch Zeit für die strukturellen Fragen zu haben.
Diese stehen für Wipperfürth erst im vierten Kapitel über den "Niedergang der zivilen Gesellschaft" im Vordergrund. Wirkt das Strukturkapitel in der Mitte des Buches auch wie ein Fremdkörper in der ansonsten chronologischen Erzählung, so birgt es für sich genommen einige interessante Ideen und Aussagen, wie z. B. zur Aristokratie (236-241) und zur 'National Efficiency-Bewegung' (301-309). Leider erscheinen Wipperfürths eigene Ergebnisse dazu allerdings auch in diesem Abschnitt viel zu verkürzt und unreflektiert. Zu wenig erfährt der Leser über die außenpolitische Relevanz des Effizienzdenkens, die Konzepte der 'Liberal Imperialists' und der 'Unionisten' um Balfour, Lansdowne und Chamberlain. Wipperfürth vergibt damit einige Chancen zu einer differenzierten Neuinterpretation und die Möglichkeit, die Entwicklungslinien zwischen Liberaler und konservativer Regierung herauszuarbeiten, die insbesondere bei den frühen außenpolitischen Äußerungen Greys evident werden.
Auch bei Fragen wie dem Elite- und Korpsbewusstsein im Foreign Office (241-245), der Wirtschaftsentwicklung (259-264) und der Schutzzollbewegung (275-279) kommt Wipperfürth über Gemeinplätze der Forschung leider nicht hinaus. Schießt er mit der Deutung der 'Tariff-Reformer' als "Proto-Faschisten" (278) deutlich über das Ziel hinaus, übersieht er bei der britischen Wirtschaft den Strukturwandel von einer Industrienation zu einem internationalen Finanzdienstleister. Beim 'Foreign Office' bleibt es bei dem, was man schon wusste: 'Oxbridge' war die Kaderschmiede Whitehalls und die Hocharistokratie die Rekrutierungsbasis. Der soziologisch wie psychologisch spannende Zusammenhang von 'working aristocracy' und dem besonders aufstrebenden und deutschlandkritischen Verhalten bleibt jedoch ungenannt. Das Paradoxon von 'decline' und 'supremacy', auf das zuletzt Keith Neilson hingewiesen hat [2], wird wie das psychologisch komplexe Deutschlandbild zu knapp behandelt, als dass es zu differenzierten Ergebnissen führte. Letzteres diente eben nicht nur als Feindbild oder Modell, sondern scheint auch einem bestimmten Selbstbild geschuldet gewesen zu sein. Der bloße Hinweis auf unterschiedliche Generationenkohorten (235) genügt hier gerade bei Personen mit persönlichem Deutschlandbezug und unterschiedlicher Einstellung wie Crowe oder Haldane nicht.
Etwas abenteuerlich wirken die vor allem auf Freud basierenden, psychoanalytischen Befunde zum britischen Sexualleben, welches allem Anschein nach um die Jahrhundertwende "weniger aktiv als eine Generation zuvor" gewesen sei. Demnach müsse sich der "Historiker stets bewusst machen, daß er es bei den Briten zwischen 1880 bis 1940 mit einem frustrierten Volk" zu tun gehabt hätte (251). Der kausale Nexus zur britischen Diplomatie wird dem Leser aber erspart.
Historiografisch gesichert wie quellennah wirkt die abschließende Beurteilung und Hauptthese Wipperfürths, dass London zwischen 1904 und 1914 nicht von der Gleichgewichtsmaxime, sondern vor allem von der "Angst gegenüber der russischen Macht" getrieben wurde (441). Wipperfürth bewegt sich damit zweifellos auf der richtigen Spur und in den Bahnen Neilsons, Wilsons und Gades. [3] Hier zeigt sich auch der Wert der Studie, welcher vor allem darin liegt, den gegenwärtigen Stand der Forschung wie die Diskussion um deren Widersprüche um das in die Jahre gekommene Paradigma des anglo-germanischen Antagonismus zusammenzufassen, einem deutschen Publikum näher zu bringen und zu weiterer Beschäftigung anzuregen. Zweifellos stellte Russland als Gegner die größte Bedrohung dar und versprach als Partner die größte Entlastung. Deshalb gilt es vor allem auch die wiederholten Versuche Londons zu thematisieren, mit Russland zu einer Einigung zu gelangen. Deutschland hatte dagegen weltpolitisch nur wenig zu bieten. Eine Politik der Stärke und des 'Appeasement' wurden zunehmend als zwei Seiten derselben Medaille bedeutsam und lösten die Balance-of-Power-Politik mehr und mehr ab. Deutschlands Rolle im Staatensystem wird damit wie zuletzt auch bei Irmin Schneider, Konrad Canis oder auch Holger Afflerbach relativiert. [4]
Hieß das aber auch, dass sein Bedrohungspotenzial wegfiel? Lag dieses Potenzial, wie Wipperfürth richtig anmerkt, eben nicht in der Kriegsmarine, so bleibt zu vermuten, dass Britannien hauptsächlich im Aufstieg des Kaiserreichs eine Gefahr für sich entdeckte. Ein Blick in die Quellen und auf die noch sehr dürftig untersuchten zeitgenössischen Alternativdiskussionen und Wahlchancen in London lässt zumindest vermuten, dass Britannien die größte Gefahr für sich weniger in einer einzelnen Macht wie Russland oder Deutschland entdeckte, sondern vielmehr in seiner Isolation als Folge einer Kontinentalallianz. Britannien als vermeintlicher 'Arbiter' des Systems, seine Möglichkeiten und Versäumnisse bei der Suche nach einer neuen Staatenordnung seit den 1890er-Jahren wird die Forschung weiter beschäftigen.
Die Arbeit Wipperfürths hat sich mit dem umfassenden Versuch zweifellos übernommen. Etwas mehr Konzentration auf die zeitgenössische Resonanz der Politik Whitehalls hätte hier wohl eher einen Perspektivwechsel wie auch ein Scharnier zwischen den Politikbereichen einleiten und einzelne Ungenauigkeiten in der Darstellung verhindern können. Auch wenn den viel versprechenden und ideenreichen Fragestellungen leider insgesamt eher bescheidene Ergebnisse gegenüberstehen, hat die Studie dennoch ihren Wert als Beitrag zu einer anhaltenden Diskussion.
Anmerkungen:
[1] Andrew N. Porter: Lord Salisbury, Foreign Policy and Domestic Finance, 1860-1900, in: Lord Blake / Cecil, H. (Hg.): Salisbury: The Man and his Policies, London 1987, 148-184.
[2] Keith Neilson: Britain and the last Tsar. British Policy and Russia, 1894-1917, Oxford 1995.
[3] Christel Gade: Gleichgewichtspolitik oder Bündnispflege? Maximen britischer Außenpolitik 1909-1914, Göttingen 1997; Keith M. Wilson: The Policy of the Entente. Essays on the Determinants of British Foreign Policy, 1904-1914, Cambridge 1985.
[4] Konrad Canis: Von Bismarck zur Weltpolitik, Berlin 1997; Holger Afflerbach: Der Dreibund: Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem ersten Weltkrieg, Wien u.a. 2002; siehe hierzu die Rezension von Friedrich Kießling, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6, URL: http://www.sehepunkte.de/2005/06/6590.html; Irmin Schneider: Die Deutsche Rußlandpolitik 1890-1900, Paderborn u. a. 2003; siehe hierzu die Rezension von Eva-Maria Stolberg, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/07/3120.html.
Andreas Rose