Lutz Voigtländer: Vom Leben und Überleben in Gefangenschaft. Selbstzeugnisse von Kriegsgefangenen 1757-1814, Freiburg/Brsg.: Rombach 2005, 306 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-7930-9434-0, EUR 38,90
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Lutz Voigtländer ist ausgewiesener Kenner der Geschichte des Kriegsgefangenenwesens im 18. Jahrhundert. 1995 leistete er auf diesem lange Zeit vernachlässigten Gebiet der Militärgeschichte mit einer Untersuchung über die preußischen Kriegsgefangenen der Reichsarmee im Siebenjährigen Krieg Pionierarbeit. [1] Zu Recht beklagt er jedoch in der Einleitung seines neuen Werks, dass bei aller Konjunktur, die die Militärgeschichte seit einigen Jahren erfährt, diese Thematik für den Bereich der Frühen Neuzeit nur sehr zurückhaltend aufgearbeitet wird.
Umso gespannter durfte man auf sein neues Buch sein, das die Situation und Lebensumstände von Kriegsgefangenen zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Ende der Napoleonischen Kriege anhand von Selbstzeugnissen beleuchten will. Die Erforschung von und die Forschung mit Selbstzeugnissen ist ihrerseits derzeit nicht nur in Mode, sondern bewegt sich auch auf einem hohen theoretischen Niveau. Davon zeugen u. a. die 2004 an der FU Berlin eingerichtete DFG-Forschergruppe "Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive" ( http://web.fu-berlin.de/selbstzeugnisse/ index_de.htm) oder der Forschungsschwerpunkt "Selbstzeugnisforschung, 1500-1800" an der Universität Basel ( http://www.forschungsdb.unibas.ch/ FspDetailShort.cfm?fsp_id=367).
Voigtländers Buch schließt sich also einer viel versprechenden Forschungsrichtung an. Sein Untersuchungszeitraum, das endende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert, war überdies im Bereich der Kriegsgefangenschaft genauso umwälzend wie in vielen andere Lebensbereichen auch. Der traditionelle Brauch, die Behandlung und den Austausch von Kriegsgefangenen über Kartelle zu regeln, die zwischen den Kriegsparteien förmlich vereinbart wurden, verlor angesichts der neuen Formen der Kriegführung und des Wandels der Wahrnehmung des Gegners zunehmend an Wirksamkeit. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg wie auch die Revolutionskriege standen unter neuen Vorzeichen; Soldaten bzw. Gefangene wurden zunehmend nicht mehr pragmatisch als wertvolles Gut angesehen, das man in einem nüchternen Kalkül der eigenen Kriegführung nutzbar machen wollte und daher möglichst schnell wieder austauschte, sondern sie wurden unter nationalen und revolutionären Vorzeichen als Feinde betrachtet, gegen die es auch zu Übergriffen aus der Zivilbevölkerung kam. Gleichzeitig geriet mit der Entstehung eines revolutionären Staates in Frankreich das alte System des Völkerrechts ins Wanken. Kartelle alten Stils mit einer als illegitim angesehenen Regierung abzuschließen erschien den Koalitionsmächten zunächst nicht möglich. Das Kartell, also die Vereinbarung ebenbürtiger Partner, wurde abgelöst durch einseitige Erklärungen und Dekrete, wie man denn mit den gefangenen Gegnern umzugehen gedachte. Dass sich deren Situation dadurch nicht unbedingt verbesserte, liegt auf der Hand.
Auf der anderen Seite waren Gefangene als Arbeitskräfte etwa in menschenarmen Gebieten in Amerika und Russland wiederum ein begehrtes Gut, das z. T. erfolgreich als Arbeitskräfte für die eigene Wirtschaft gewonnen werden konnte. Das Ende der Napoleonischen Kriege ließ die Entwicklung dann zunächst abbrechen. Bekanntlich kam es erst im 20. Jahrhundert zu völkerrechtlich verbindlichen Standards zur Behandlung von Kriegsgefangenen - die indes bis heute nicht unbedingt in der Praxis eingehalten werden.
Voigtländers Interesse richtet sich auf den Aspekt der rechtlichen und mentalen Veränderungen und Neuerungen des Kriegsgefangenenwesens. Er will Selbstzeugnisse dahingehend befragen, wie die juristischen und politischen Rahmenbedingungen bei den Soldaten ankamen und wahrgenommen wurden, wie sich die Normen zur Realität verhielten. Dieser Ansatz ist durchaus vielversprechend, da er jenseits der offiziellen Überlieferung der Kabinette, Verwaltungen und Armeen eine weitere Quellengruppe aus der Feder der Betroffenen erschließen würde, wenn er denn methodisch stringent verfolgt würde. Wer erwartet, dass dies bei Voigtländer umgesetzt sei, wird das Buch jedoch schnell enttäuscht aus der Hand legen. Schon ein schneller Blick ins Literaturverzeichnis zeigt, dass er die neueren Debatten zur Quellengruppe der Selbstzeugnisse überhaupt nicht wahrgenommen hat. Im Text sucht man dann auch vergebens nach quellenkritischen und methodischen Reflexionen. Dem Nicht-Fachmann empfiehlt Voigtländer sein Buch als "Lesebuch" (8) - und mehr ist es auch nicht. Er reiht Auszüge aus Tagebüchern, Autobiographien und Briefen - die ihrerseits nicht unbedingt zur Gattung der Selbstzeugnisse gehören - von Kriegsgefangenen oder ehemaligen Kriegsgefangenen aneinander, die zumeist zuvor bereits publiziert waren. Selten nur interpretiert er die Quellen, und so gut wie nie finden sich Überlegungen zu den immer wieder festzustellenden Eingriffen der früheren Herausgeber in die Textsubstanz, die er dementsprechend vollständig übernimmt. Da ohnehin in der Regel nur mehr oder weniger lange Ausschnitte präsentiert werden, die Voigtländer von Interesse schienen, sind die wissenschaftlichen Auswertungsmöglichkeiten eng begrenzt.
Enttäuschend sind auch die Wiedergaben der Quellen, die der Verfasser tatsächlich erstmals aus den Archiven hebt. Hier ist nämlich ernsthafte Kritik an der Editionstechnik anzubringen. Das breit präsentierte Tagebuch des Grenadiers Johannes Reuber aus seiner Gefangenschaft im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, das heute im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M. verwahrt wird, wäre bei sorgfältiger Bearbeitung eine überaus interessante Quelle. Voigtländer hat seiner Transkription jedoch einige Abbildungen beigegeben, auf denen ein Originaltext zu sehen ist, der deutlich von der Bearbeitung abweicht. Ein Beispiel: Original: "[...] und weill wir Heßen, Krigsgefangene, und kahmen in den, mitteller Flügell zu liegen, bey B [auf einer Skizze - M.P.] und 900 Man Engeländer, Kriegsgefangen, lagen bey A in dem Flügell"; Voigtländer: "Und wir hessischen Kriegsgefangenen kamen in den mittleren Flügel bei B zu liegen, und 900 kriegsgefangene Engländer lagen in dem Flügel bei A" (87 f.). Zwar ist eine gewisse Glättung von Zeichensetzung und Orthographie zugunsten besserer Lesbarkeit unter Umständen noch zu verschmerzen, aber eine derartig tief greifende Änderung geht eher in Richtung Quellenparaphrase, erfüllt keineswegs die Kriterien einer wissenschaftlichen Edition. Zumindest bleibt auf diese Weise nur wenig vom Originalcharakter der Quelle übrig. Eine wissenschaftliche Auswertung ist so nur noch bedingt möglich.
So bleibt am Ende der etwas enttäuschende Eindruck, nur ein wenn auch anregendes Lesebuch in der Hand zu halten, das historischen Laien durchaus empfohlen werden kann. In einem wissenschaftlichen Kontext ist es jedoch weitgehend unbrauchbar.
Anmerkung:
[1] Lutz Voigtländer: Die preußischen Kriegsgefangenen der Reichsarmee 1760/1763 (= Duisburger Studien; Bd. 22), Duisburg 1995.
Max Plassmann