Claudia-Yvonne Ludwig: Die nationalpolitische Bedeutung der Ostsiedlung in der Weimarer Republik und die öffentliche Meinung (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1000), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 272 S., ISBN 978-3-631-52487-9, EUR 45,50
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Dass die Siedlungspolitik in den Ostgebieten des Deutschen Reiches zu den wichtigen, die Entwicklung der Weimarer Republik erheblich beeinflussenden innenpolitischen Fragen gehört, ist beileibe keine neue Erkenntnis. Auffällig ist indes, dass dieses Thema in der Vergangenheit meist vorrangig im Hinblick auf die Interessenpolitik der agrarischen Pressure Groups, insbesondere des Reichslandbundes, untersucht wurde. Weitgehend vernachlässigt wurden dagegen bisher die nationalpolitischen Aspekte der Siedlungspolitik. Claudia Yvonne Ludwig hat es unternommen, diese wenig beachtete Forschungslücke in ihrer bei Eike Wolgast (Heidelberg) entstandenen, chronologisch-systematisch angelegten Dissertation zu schließen. Hierfür hat sie neben der verfügbaren, eher schmalen Forschungsliteratur sowie den vorhandenen gedruckten Quellen die einschlägigen Quellenbestände des Bundesarchivs Berlin (Reichskanzlei, Büro des Reichspräsidenten, Reichsinnenministerium und Reichsarbeitsministerium) und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (Innenministerium, Landwirtschaftsministerium, Staatsministerium und Ostpreußische Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium) sowie die Nachlässe Helmut Neumann und Johannes Schauff im Institut für Zeitgeschichte (München) verwendet.
Im ersten inhaltlichen Kapitel skizziert die Verfasserin zunächst knapp die Geschichte der Siedlungsidee und die Träger der Siedlungsideologie. Zutreffend verweist sie darauf, dass diese terminologisch an die Peuplierungspolitik der absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts anknüpfte, aber seit dem 19. Jahrhundert nationalistisch aufgeladen wurde: Neben das Ziel der Stärkung des Bauernstandes trat nunmehr das der Festigung des Deutschtums im Osten. Hintergrund dieser Entwicklung war der Wille, die in der ersten Teilung Polens (1772) und auf dem Wiener Kongress (1814/15) erworbenen Provinzen Westpreußen und Posen unbedingt dem preußischen Staat zu erhalten und die Ansprüche der polnischen Nationalbewegung darauf abzuwehren. Diese Tendenzen verschärften sich vor allem als Folge der Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg und wurden durch konservative, kulturkritische Untergangsszenarien (etwa eines Oswald Spengler) weiter aufgeladen. Sie verbanden sich mit der neuromantischen Vorstellung, dass durch "Innere Kolonisation", d. h. durch die Schaffung einer breiteren, konservativen Schicht bäuerlicher Bevölkerung, der drohende Verfall aufgehalten werden könne.
In der folgenden Analyse der deutschen Siedlungspolitik im Osten während der Weimarer Republik grenzt Ludwig die Jahre 1918 bis 1925 als eigene Epoche ab: In diesem Zeitraum habe die Siedlungspolitik vorrangig der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen gegolten und sei entsprechend wirtschafts- und sozialpolitisch ausgerichtet gewesen. Erst ab Ende 1925 seien nationalpolitisch motivierte Akzentverschiebungen erfolgt, die seit dem Frühjahr 1926 in Gestalt der Siedlungsförderung durch Reichsmittel ihren unmittelbaren Ausdruck fanden. Dies war insofern neu, als hier erstmals das Reich in eine bis dahin originäre Länderangelegenheit eingriff. Insbesondere das bürgerliche Kabinett Luther verband mit dieser Politik das Ziel, die SPD-geführte preußische Staatsregierung zurückzudrängen. Mit dem Auftreten der Agrarkrise 1927 rückten dann zunächst wieder primär rentabilitätsorientierte, auf Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Landwirtschaft gerichtete Intentionen in den Mittelpunkt. Der nationalpolitische Aspekt kehrte jedoch angesichts des befürchteten "bevölkerungspolitischen Drucks von Seiten Polens auf die Ostgrenze" bald zurück. Die Zeit der Präsidialkabinette war vor allem gekennzeichnet durch die heftigen Auseinandersetzungen mit der Lobby der Großgrundbesitzer. Diese versuchten über ihren Standesgenossen Reichspräsident Paul von Hindenburg bekanntlich zu erreichen, dass verschuldete Großbetriebe durch Subventionen des Reiches saniert und nicht einem "agrarbolschewistischen" Siedlungsprogramm zugeführt würden. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang, dass die Junker-Lobby ihre partikularen materiellen Interessen über die nationalpolitischen Zielsetzungen einer aktiven Siedlungspolitik stellte und damit entscheidend zum Scheitern dieses Projekts - und zum Sturz Heinrich Brünings - beitrug.
In einem eigenen Kapitel geht Ludwig vertiefend der Frage nach, inwieweit die Ostsiedlung als politisches Machtinstrument nach innen und nach außen fungiert habe. Sie analysiert insbesondere das Wirken der ostelbischen Großgrundbesitzer, das sich seit der Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch Paul von Hindenburg erheblich verstärkte. Der ostelbische Adel vermochte so seinen 1918 erlittenen Bedeutungsverlust teilweise zu kompensieren. In außenpolitischer Hinsicht war die Siedlungspolitik vor allem im Hinblick auf die angestrebte Revision der deutsch-polnischen Grenze bedeutsam, glaubte man doch, das infolge des Versailler Vertrages verloren gegangene nationalpolitische Gleichgewicht im Osten wiederherstellen zu müssen. Der Konkurrenzkampf mit Polen war also, darauf weist Ludwig nachdrücklich hin, nicht eigentlich von offensiven Intentionen getragen, sondern wurde als Defensiv- und Präventivmaßnahme verstanden.
Abschließend widmet sich Ludwig der Frage der Präsenz der Ostsiedlungsfrage in der Presse. Sie kommt hierbei zu einem angesichts des hohen Stellenwerts der Ostfragen für sämtliche politisch-weltanschauliche Lager keineswegs überraschenden Ergebnis: Bei allen Unterschieden im Detail unterstützten die untersuchten Blätter - "Kreuzzeitung" (DNVP), "Berliner Tagblatt" (DDP), "Germania" (Zentrum) und "Vorwärts" (SPD) - die nationalpolitischen Anliegen der Siedlungsdebatte vorbehaltlos, wobei in den republikfreundlichen Blättern lediglich sozialpolitische und junkerkritische Haltungen einen höheren Stellwert einnahmen.
Die Siedlungsidee, so resümiert Ludwig in ihrer gelungen Studie, habe in den 1920er-Jahren immer mehr Züge eines vorrangig emotional argumentierenden Heilsgedankens angenommen - eines Heilsgedankens indes, dessen Resultat, gemessen an den hochfliegenden Plänen, mehr als dürftig war. Die erhoffte Siedlungstätigkeit blieb aus, und bereits die dafür erforderliche Erweiterung von Gesetzen wurde nicht erreicht. So scheiterte auch der Versuch, das "bevölkerungspolitische Gleichgewicht" im Verhältnis zu Polen auszugleichen, wobei festzustellen ist, dass die diesem Konzept zugrunde liegenden Annahmen aus heutiger Sicht weitgehend unzutreffend sind. Die in Intention und Ergebnis siedlungsfeindliche Lobbytätigkeit des ostelbischen Großgrundbesitzes beurteilt Ludwig zutreffend als Ausdruck traditionalistischen Beharrens, für das sich der Nationalstaat auf die Herrschaft über den Boden mithilfe einer konservativen Regierung reduzierte.
Matthias Stickler