Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005, 1023 S., 32 s/w-Abb., 6 Karten, ISBN 978-3-421-05466-1, EUR 48,00
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Overys Geschichte Hitlers und Stalins soll eine "Geschichte ihres Lebens und ihrer Zeit" sein; sie soll den "Hintergrund der Gesellschaften" beleuchten, "denen sie ihren Aufstieg verdankten", und jenen "Kräften nachgehen, von denen die Diktatur zusammengehalten wurde - jenseits des Klischees eines allmächtigen Diktators" (10). Sein Buch will damit "eine empirische Grundlage für jede Erörterung der Frage [liefern], was die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Systeme ausmacht[e]" und "eine komparative 'operative' Geschichte der beiden Systeme" vorlegen, "um die umfassende historische Frage beantworten zu können, auf welche Weise eine persönliche Diktatur eigentlich funktionierte (18).
Für den Autor sind die Unterschiede nicht weniger auffällig als die Gemeinsamkeiten. Die beiden Systeme gleichzusetzen, liegt ihm fern. Doch "einige Bereiche einer Konvergenz" scheinen ihm "deutlich sichtbar". Zu ihnen gehörte die hier wie da in extremer Form vertretene "Idee vom 'Übermenschen'", das praktische Vorgehen "im Aufbau eines staatlichen Sicherheitsapparates, der Errichtung von Konzentrationslagern in großem Maßstab, der vollständigen Kontrolle über die kulturelle Produktion und der Errichtung einer sozialen Utopie auf einem Berg von Leichen" (18). Dies alles geschah, so Overy, auf dem Boden eines verbreiteten Einverständnisses zwischen Herrschern und Beherrschten, unter der Betonung der Legitimität ihres Handelns; denn ein Großteil der Bevölkerung folgte den Diktatoren dabei, akzeptierte ihre Herrschaft und war zur Zusammenarbeit bereit (19).
14 Kapitel versuchen, die genannten Stichworte aufzugreifen und den skizzierten Beobachtungen nachzugehen, die Gegensätze in den Ideen, die Unterschiede in den institutionellen Entwicklungen und in der politischen Praxis dabei ebenso herauszuarbeiten wie ihre konvergierenden Züge. Sie thematisieren die beiden "Wege in die Diktatur" (Kapitel 1), die "Kunst des Regierens" (Kapitel 2), die "Personenkulte" (Kapitel 3), den "Parteienstaat" (Kapitel 4), die "Staaten des Terrors" (Kapitel 5), die "Errichtung von Utopia" (Kapitel 6), das "moralische Universum der Diktatur" (Kapitel 7), "Freund und Feind: Reaktionen auf die Diktatur" (Kapitel 8), "Kulturrevolutionen" (Kapitel 9), "Kommandowirtschaft" (Kapitel 10), "militärische Supermächte" (Kapitel 11), "totale Kriege" (Kapitel 12), "Nationen und Rassen" (Kapitel 13), das "Lagersystem" (Kapitel 14). Auf über 1.000 Seiten hat Overy zu allen diesen Aspekten viel Anschauliches zusammengetragen; unter kundiger Auswertung dessen, was die in ihrer Fülle kaum mehr überschaubare Forschung zum Nationalsozialismus wie zum Stalinismus in den letzten Jahren und Jahrzehnten erarbeitet hat; das Ergebnis löst durchaus das Versprechen ein, eine "empirische Grundlage" für weitere Studien zu liefern, die nach einer Erklärung der beiden Diktaturen, nach Möglichkeiten und Grenzen eines Vergleichs fragen. Das Buch gibt ihnen dafür viele Beobachtungen mit auf den Weg, ohne selbst bereits der "große Wurf" zu sein. Dazu fehlt ihm die Geschlossenheit, das Zupackende, das Neue.
Geschlossene, konzise, "politologische" (wie er sagt, 117) Konzepte der Interpretation sind Overys Sache nicht, sie sind ihm eher zuwider. Das "Totalitarismusmodell" (das die beiden Diktaturen als Gegenentwurf zu westlichen, liberalen parlamentarisch verfassten Staaten sah, mit einer alles erklärenden und alles legitimierenden, sich auf "Wissenschaftlichkeit" berufenden Weltanschauung, der Partei als ihrer Sachwalterin, einem Maßnahmenstaat und staatlichen Terrorapparat zur Verwirklichung ihrer Ziele, mit gleichgeschalteten Medien, vielfältigen Methoden der Planung, Lenkung und Kontrolle der Wirtschaft) lehnt Overy ab: Es blende die unterschiedlichen Ziele der beiden Systeme weitgehend aus und könne die Komplexität des Geschehens, seine tatsächliche Fragmentierung nicht abbilden (15 ff., passim). Was Overy an dessen Stelle setzen möchte, bleibt unklar, zumal er sich offensichtlich selbst nicht recht eingesteht, dass ein Großteil seiner Begriffe und Vergleichsbeobachtungen dieser Forschungsrichtung entstammt oder mit ihr auf einer Argumentationslinie liegt (nur dass dabei die "totalitäre" zur "holistischen", "szientivistischen" Weltanschauung wird, die "totale" Macht zur "potentiell unbegrenzten", "absoluten", die Verfügung über den staatlichen Sicherheitsapparat, die "Kontrolle über die kulturelle Produktion", die Wirtschaft eingeschlossen).
Als Alternative hätte sich eine konsequente "Historisierung" der beiden Bewegungen angeboten, die ihre Weltanschauungen als Reaktionen auf die epochalen Umbrüche und Herausforderungen der Säkularisierung und Industrialisierung, des Nationalismus und der Massendemokratie begreift, ihre weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln freilegt und ihre Machtergreifung im Chaos des Weltkrieges, des nachfolgenden Bürgerkrieges, der Weltwirtschaftskrise beschreibt, das den Glauben an das alte System, an die liberalen Staatsverfassungen und die kapitalistische Marktwirtschaft zum Einsturz gebracht hatte und Raum für eine scheinbar ganz neue, glücklichere und harmonischere Zukunft schuf, die nur durch eine radikale Wende, eine "Revolution" im Innern zu verwirklichen sei, und tatsächlich Regime hervorbrachte, die aus der selbstverschuldeten außenpolitischen Isolation ein zusätzliches Argument und existenzielles Gebot eines permanenten innenpolitischen Schulterschlusses ableiteten und diesen mit allen, auch terroristischen Mitteln durchzusetzen suchten. Obwohl Overy immer wieder auch auf diesen Erklärungsansatz rekurriert, konsequent verfolgt wird auch diese Linie nicht.
Dabei hätte ein Blick über die Grenzen, nach Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg, nach Ostmittel- und Südosteuropa, nach Italien und Spanien in der Zwischenkriegszeit die gesamteuropäischen Dimensionen der skizzierten Herausforderungen deutlich machen können, schließlich war - damit konfrontiert - der liberale Rechtsstaat in Österreich schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Defensive geraten, gingen nach 1918 fast alle in der Region neu geschaffenen parlamentarischen Staaten zu autoritären Regimen über, die versprachen, das zu schaffen, was alle ohnehin sein wollten: starke, in sich geschlossene Nationalstaaten. Die umfassende historische Verortung der Probleme hätte auch helfen können, das "Populistische" in beiden Bewegungen, den Rekurs auf "Volksgemeinschaft" und "proletarische Rätedemokratie" zu erklären, meines Erachtens überzeugender, als dies in den Kapiteln "Kunst des Regierens" und "Parteienstaat" geschieht (die von den Bolschewiki 1917 adaptierte Räteideologie bleibt bei Overy nahezu völlig ausgeblendet; der Problemkomplex, der sich daraus für die Partei ergab, auch; die erste Räteverfassung von 1918 ebenso; das von ihm als "erste Verfassung" apostrophierte Staatsorganisationsgesetz von 1923/24 war de facto die zweite und ist ohne die erste nicht recht zu verstehen, zumal diese als Verfassung der Russländischen Föderation weiterhin in Kraft blieb, die Verfassungen der übrigen sowjetischen Unionsrepubliken ihr nachgebildet worden waren; und außen vor bleiben schließlich auch die in diesem Zusammenhang nicht unwichtigen Begründungen für die neue, Stalinsche Verfassung von 1936 und die populistischen Kampagnen, die sie begleiteten, vgl. 102 ff.). Zu den Versuchen, das geistige Vakuum zu schließen, das die säkularen Umbrüche hinterlassen hatten, gehörten auch die Inszenierungen der Macht, mit den ihnen eigenen Zurschaustellungen, Kulten, Riten und Liturgien, bei denen Nationalsozialismus und Stalinismus Formen einer Säkularreligion annahmen. Die Forschungen zu den beiden Bewegungen als "politischer Religion" wie die kulturgeschichtlichen Studien zu Formen und Inhalten der Selbstdarstellung und medialen Identitätsstiftung, die beiden Regimen den "schönen Schein" gaben, haben darauf nachdrücklich hingewiesen.
Damit sollen beide Systeme weder entschuldet noch gleichgesetzt werden. Manches, vieles erscheint im Einzelnen wie in den monströsen Ausmaßen nach wie vor als unbegreiflich, und die Unterschiede bleiben, bei den Protagonisten, der Partei und den von ihnen beherrschten Ländern. Wien, München und Berlin waren nun mal nicht Tiflis, Baku, das sibirische Kurejka und Moskau, und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland sind mit den russischen Verhältnissen nicht in eins zu setzen. Auch der Grundunterschied, dass sich die Stalinsche Revolution der forcierten Schwerindustrialisierung, Zwangskollektivierung und kulturellen Gleichschaltung unter ganz anderen Voraussetzungen und gegen den erkennbaren Willen der Mehrheit der Bevölkerung (der Bauern, der kleinen Gewerbetreibenden, der nichtrussischen Völker an der Peripherie) vollzog, bleibt. Man mag, wie Overy, 1928 und 1934 als Wendepunkte, Gregor Strasser als Hitlers Bucharin und Poskrebyschew als Stalins Bormann bezeichnen (64, 116), wichtiger scheint mir, dass der Terror in Russland, anders als Overy meint (123 f.), auch den innersten Zirkel der Parteielite berührte (er kostete nicht nur den Opponenten im Politbüro das Leben, er löschte die Familie von Stalins erster Frau Swanidse weitgehend aus, brachte die Frauen Molotows und Kalinins in den GULAG, die junge Frau Poskrebyschews vor ein Erschießungskommando, trieb Ordschonikidse und den Bruder von Kaganowitsch in den Selbstmord, und auch die Organisatoren des Terrors, die Volkskommissare Jagoda und Jeschow, kamen in ihm um). Ob es analytisch weiterführt, mit Overy (23 f.) den "großen Terror" von 1937/38 als "historische Konstruktion" zu sehen (Jahren, in denen vom NKWD nachweislich 1.575.000 Menschen verhaftet, 1.345.000 abgeurteilt, 681.692 hingerichtet wurden), weil er aus mehreren Komponenten bestanden habe, scheint fraglich; mit dieser Logik würden uns rasch die meisten Begriff verloren gehen, auch der der "Revolution".
Doch wichtiger als alle Einzelkritik, die hier nicht fortgesetzt werden soll, erscheint mir das grundsätzliche Problem: Fehlen der Interpretation die großen Koordinaten der historischen Einordnung und der Begrifflichkeit ein mehr oder minder stringentes Konzept, so wird ein überzeugender Systemvergleich schwierig. Im vorliegenden Fall gerät er eher zu einer noch vorläufigen Stoffsammlung, die das riesige Material nach gewissen Stichworten zusammengestellt hat, der die letzte Überzeugungskraft fehlt. Ein eigner Standort wird auch nicht dadurch gewonnen, dass man sich immer wieder von der "Totalitarismusforschung" und der "herkömmlichen Geschichtswissenschaft" absetzt. Overy kann dabei in beiden Fällen nur einen Forschungsstand von Mitte der 1960er-Jahre meinen. Denn dass "Vergleichen" nicht "Gleichsetzen" heißen kann, ein Anspruch nicht für die politische Wirklichkeit genommen werden darf, beide Systeme nicht nur über den Terror funktionierten, von wesentlichen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurden, haben wir inzwischen gelernt, ist mittlerweile Gemeingut der Forschung geworden. Schließlich ist Forschung ein fortlaufender Kommunikationsprozess, stehen wir alle auf den Schultern von Riesen.
Helmut Altrichter