Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne (= Europäische Geschichte), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, 281 S., 10 Abb., ISBN 978-3-596-60145-5, EUR 10,90
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Wolfgang Kaschuba beschreibt in diesem Band der "Europäischen Geschichte" des Fischer-Verlags den langfristigen Wandel von Zeit- und Raumvorstellungen in der europäischen Moderne. Der Ausgangspunkt seiner Erzählung ist die Wahrnehmung beider Kategorien in dem typischen vormodernen Lebensraum: einem ländlichen Dorf, in dem Raum und Zeit in Maßen erfasst wurde, welche menschliche Anatomie und Leistungsfähigkeit widerspiegelten ("Füße", "Ellen" oder "Morgen") und Zeit an dem orientiert war, was die Chronobiologie zu erforschen beginnt. Obgleich kein Dorf gänzlich von der Welt abgeschottet gewesen sein dürfte, flossen Nachrichten nur langsam, auswärtige Güter waren relativ rar.
Den Beginn der Moderne markierten Veränderungen in all diesen Bereichen, die zwischen dem 16. und langen 18. Jahrhundert stattfanden. Die erste war ein Übergang zur Wahrnehmung von Zeit in mechanisch messbaren, immer gleichen Einheiten. Diese Zeit konnte seit dem 14. Jahrhundert von Turmuhren abgelesen werden, bevor sie durch die seit dem 15. Jahrhundert in ersten Modellen gebauten Taschenuhren überall verfügbar wurde. Zweitens verdichteten sich die Nachrichten, Waren- und Personenflüsse durch die Verbesserung des Transportnetzes, zumal im 17. und 18. Jahrhundert. Auch wenn die Geschwindigkeit gering blieb, sorgten Postverbindungen für dichtere Nachrichtenflüsse, währen vor allem der Bau von Kanälen den Transport schwerer Güter erlaubte. Die Verbindung von mechanisch gemessener Zeit und berechenbaren, regelmäßigen Verkehrsverbindungen lieferte das "Postkutschenprinzip" mit seinem Fahrplan. Kaschuba schildert ausführlich, wie dieser Wandel allmählich und regional unterschiedlich vor sich ging. Für die Bestimmung dessen, wie die neue Zeit genutzt wurde, war nicht zuletzt entscheidend, welcher Bereich als Leitsektor einer lokalen Wirtschaft fungierte: Landwirtschaft, Fabrik, Handel- und Verkehr beispielsweise, und wann es diesem Leitsektor gelang, etwa religiös bestimmte Zeiteinteilungen zu verdrängen. Einzelne Personen hielten an 'ihren' Zeiten fest; diese mussten an einem Ort erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts normiert werden, wenn dies für eine dichter getaktete Wirtschaft notwendig wurde, auf regionaler und nationaler Ebene wurde das erst im 19. Jahrhundert notwendig, weil sonst Fahrpläne - auch Militärfahrpläne - nicht hinreichend präzise zu berechnen waren.
Kaschuba schildert diese kulturellen Verschiebungen, die eine neue Wahrnehmung von Raum und Zeit zur Folge hatten, als die entscheidenden Voraussetzungen des noch tiefer gehenden Umbruchs, den die Eisenbahn mit sich brachte. Die Eisenbahn erlaubte Geschwindigkeiten, die sich bald sehr weit von dem, was zu Pferde möglich war, entfernten; zudem ging die Möglichkeit, eine bewegliche Maschine praktisch ununterbrochen ohne Leistungsverlust laufen lassen zu können, über bisherige Erfahrungen hinaus. Die Eisenbahn erforderte auch eine Umgestaltung des Raumes: durch Landschaftsdurchbrüche, Tunnel (die zugleich eine neue Reiseerfahrung darstellten) und Brücken. Räume wurden aus der relativ engen Perspektive von Abteilfenstern wahrgenommen; zudem wurden Räume selektiv verkürzt, indem Verbindungen zwischen Großstädten schnell ermöglicht wurden, während auf dem Land das Pferdekutschentempo dominant bleiben konnte. Dazu kam eine Verdichtung der Kommunikation: inhaltlich durch eine immer leichter bezahlbare Presse und mehr Bücher, zeitlich durch die Instant-Kommunikation des Telegraphen, wobei vor allem die erste Entwicklung zur Nationalisierung von Räumen beitrug.
Die letzten Kapitel beschäftigen sich mit den Wandlungen des 20. Jahrhunderts, in denen manche Aspekte des Raumes so sehr verkürzt werden, dass sie zu verschwinden scheinen. Zu dem enorm wachsenden Transport von Gütern in immer kürzerer Zeit und der Zunahme von Reisen bei immer höheren Geschwindigkeiten kam die teilweise Aufhebung räumlicher Hindernisse durch neue Medien. Schallplatten und Filme ermöglichten zunächst erstmalig den Transport von bewegten Bildern und Tönen durch Raum und Zeit; Radio und Fernsehen erlaubten nur wenig später, diesen Transport ohne Verzögerung ablaufen zu lassen. Die individuelle Mobilität des Automobils stellte zwar einerseits die "Fußgängererfahrung", die auch ein Wanden abseits der Hauptstraßen ermöglicht hatte, wieder her, erforderte aber noch mehr als die Eisenbahn den Umbau von Städten und Landschaften. Dagegen spielt die in der öffentlichen Wahrnehmung der letzten Jahren so intensiv debattierte Internet-Revolution in Kaschubas Erzählung eine eher geringe Rolle; Flugzeug und Internet scheinen ihm wenig gänzlich Neues gebracht zu haben, sondern eher das Eisenbahnprinzip und das Telefonprinzip quantitativ fortzuschreiben.
Kaschubas Buch liefert in leicht lesbarer Form die Synthese einer immensen Forschungsleistung. Es stellt eine gelungene Verbindung zwischen einer empirischen Geschichte von Zeitmessung, Verkehr und Kommunikationsmitteln und einer kulturhistorischen Rekonstruktion ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung dar. Dabei vertritt Kaschuba eine klare These, über die sich das intensive Nachdenken lohnt: nämlich die des Primats der Kultur über die Technik. Kaschuba zeigt, wie kultureller Wandel technischen Veränderungen vorausging, ja diese oft bedingte. Das beginnt mit der Konstruktion von Uhrtürmen als Ausdruck von politischem und sozialem Status (nicht als Mittel der Arbeitskoordination) und setzt sich beispielsweise in der technischen Ausgestaltung der Eisenbahn als Postkutsche auf Schienen fort. Das erklärt, so impliziert Kaschuba zumindest, auch den "Revolutionscharakter" technischer Veränderungen: Erst dann, wenn die kulturellen Rahmenbedingungen ein Problem erkennbar gemacht haben, kann es auch technisch gelöst werden, was dann bei entsprechendem Kapital- und Materialeinsatz recht rasch geschehen kann.
Andreas Fahrmeir