Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München: Carl Hanser Verlag 2005, 1008 S., 30 Abb., ISBN 978-3-446-20675-5, EUR 45,00
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Sollte es eines Tages einen biologistic (re)turn in der Soziologiegeschichte geben, dürfte Radkaus voluminöse Studie über Max Weber unter den Werken, die im einundzwanzigsten Jahrhundert wieder den Anschluss an das neunzehnte suchen, allemal zu nennen sein. Nachdem in den letzten zwanzig Jahren weltweit eine beispiellose Weberrezeption die Sicht auf Werk und Person bei Mommsen (1959), Bendix (1960) und Baumgarten (1964) souverän zur gesellschaftsgeschichtlichen Familienbiografie Roths (2001) vervollkommnet hat, bahnt sich nun der Rückfall in Theoreme an, die bereits zu Lebzeiten Webers (wiewohl späterhin in den dreißiger Jahren in Deutschland nicht mehr) desavouiert waren. [1]
Radkau gibt seiner Darstellung einen doppelt zu deutenden Untertitel - Die Leidenschaft des Denkens. Die zwei Bedeutungshorizonte: 1. Weber wird geschildert als erblich (oder anderswie) belastet mit Leidenschaften, die ihn in Abgründe seiner Biografie hineinführten, welche er allerdings meisterte durch heroische Arbeit am Œuvre - ein Mann "unter der Tyrannei der Natur und der Nerven" (234 ff.) und 2. Weber wird gezeigt als Denker der Wilhelminischen und frühen Weimarer Zeit, der zunächst zur eigenen Lebensbewältigung und später im Spannungsfeld zwischen "Weltkrieg und Weltflucht" (699 ff.) Werke schuf, die Weltgeltung erlangten.
Die drei Teile des Buches folgen lose den Schaffensphasen. Teil I behandelt die Zeit bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts. Hier ist der eine Themenstrang die körperlich und seelisch folgenschwere Kindheitsgeschichte mit allerlei Belastungen (bzw. Belastbarkeitsgrenzen) und deren späteren Nachwirkungen. Der werkbiografische Themenstrang reicht von der Landarbeiterstudie über die Antrittsvorlesung bis hin zu den Börsenschriften, mit dem gemeinsamen Bezugspunkt prekärer "Bodenbindung" Webers. (309) Die beiden Themenstränge vereinigen sich, wo Webers psychosomatischer Zusammenbruch - plausibel gegenüber Marianne Webers "Erklärung", die den Vater-Sohn-Konflikt betont - als Schaffenskrise gedeutet wird.
Teil II nimmt die Zeit bis etwa zum Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts in den Blick. Der Themenstrang der Leidenschaft behandelt nun die sexuelle Not und deren Überwindung durch Reisen, eine neue Sicht auf Selbstüberwindung durch religiöse Askese und schließlich Webers beginnendes Verständnis der Erotik. Der Themenstrang Denken wird durch lange Passagen zu "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" (zitiert nach einer Ausgabe von 1993, die sowohl dem Text von 1905 entspreche als auch die Fassung von 1920 berücksichtige) sowie den Schriften über Russland und den Abhandlungen zur Psychophysik der Industriearbeit abgedeckt. Die zwei Themenstränge fließen ineinander, wo eine auf Körper ebenso wie Geist verweisende "Suche nach Verallgemeinerbarkeit eigener Leidenserfahrung" (434 ff.) angeblich Motiv Weberschen Wissenschaftsverständnisses war.
Teil III widmet sich dem letzten Lebensjahrzehnt. Der Themenstrang Leiden/Leidenschaft macht nun das Charisma zum Ausgangspunkt eines Berichts über Webers endlich erfülltes Liebesleben. Das analytische Werk wird im Sinne eines "versteckten Naturalismus in Wirtschaft und Gesellschaft" (643 ff.) interpretiert. Die Quintessenz ist: Webers in den letzten Lebensjahren erotisch ausgelebter Masochismus sei ein Erfahrungshorizont, der zum Verständnis seiner intellektuellen Höchstleistungen durchaus beitrage.
Verdienstvoll an dem über tausendseitigen Konvolut ist jedenfalls, dass Webers (Er)Leben anhand von Quellenmaterial rekonstruiert wird - konsequenter als das Werk, das oftmals chronologisch ungenau anhand beliebiger Textfassungen geschildert wird. Die Korrespondenz aus drei Biografiephasen, insbesondere die Archivbestände aus Oerlinghausen, Berlin und München, sowie die biografischen Reminiszenzen Marianne Webers, Eduard Baumgartens und anderer naher Verwandter ergeben ein Lebensbild auf breiter Grundlage. Zu denen, die um Auskunft über Persönliches gebeten wurden, gehörte auch eine Urenkelin Else Jaffés (der späten Geliebten), als Enkelin bezeichnet. (938) [2]
Das "Faszinosum Max Weber" ist heute verbürgt durch fast ein Jahrhundert Rezeptionsgeschichte: Weber ist die methodologische Begründung der modernen Soziologie zu danken. In Abkehr von Gesetzmäßigkeiten à la Kampf ums Dasein à la Soziologie des im späten neunzehnten Jahrhundert tonangebenden Herbert Spencer zeigte Weber, wie eine Soziologie zu denken ist, die dem Diktat des naiven Empirismus entgeht und ihre begrifflichen Grundlagen reflektiert. Talcott Parsons hat in den dreißiger Jahren gezeigt, dass Webers Theorie längst über den Sozialdarwinismus hinausgeführt hatte, ehe im damals zeitgenössischen Nationalsozialismus das Gewaltregime in Deutschland sich noch einmal sozialdarwinistisch zu legitimieren suchte. Der Gedanke methodologischer Grundlegung - per "Objektivität" und "Wertfreiheit" - war entscheidend für Webers Sozialwissenschaft jenseits des naturalistischen Empirismus der seinerzeit zeitgenössischen "Leipziger Schule" (Karl Lamprecht, Wilhelm Ostwald, Wilhelm Roscher). Weber wusste, dass die Differenz zwischen Begriff und Gegenstand keine beliebigen Definitionen und auch keine geschichtsontologischen Setzungen erlaubt. Darin lag der Anfang der modernen Soziologie - wie auch für Georg Simmel. Dass genau jene Wirklichkeitswissenschaft, die sowohl Weber als auch (vor ihm) Simmel postulierte, perspektivische Erkenntnis war, sieht Radkau nicht. Sein voluminöses Lebensbild lässt wenig Spielraum für "Objektivität" und "Wertfreiheit" à la Weber. [3]
Rezeptionsgeschichtlich ist die Nähe zwischen Simmel und Weber (für methodologische Überlegungen bis in die ersten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts) gut belegt. Aber Radkau interessiert dies nicht. Er meint, für den Idealtypus, "Markenzeichen der Weberschen Methodik", könne man "nahezu beliebig viele Stammbäume - von Aristoteles bis hin zu Simmel - konstruieren". (417) Er ist überzeugt: "Im Menschen existiert aus Webers Sicht offenbar eine spontane Naturanlage zu derartigen 'Gedankenbildern'; diese Vorstellung [...] entspricht dem damals neuesten Stand der Evolutionsforschung". (417) Und er doziert: "Jene 'Idealtypen', die nach verbreiteter Meinung den Kern der Weberschen Methodologie ausmachen", (155) hätten allenfalls symbolischen Gehalt, denn Verstehen sei für Weber "einfühlend", wiewohl "unsentimental unter Wahrung rationaler Distanz". (333) Dass Wirtschaft und Gesellschaft (fast) ausschließlich idealtypisch gefasste Begriffe verwendet, bemerkt Radkau nicht. Stattdessen mutmaßt er: Die "Methodischen Grundlagen" dieses "hinterlassenen Hauptwerks" - wie es Winckelmann (1986) nannte - seien kein tragfähiges Fundament der Weberschen Herrschafts- und Religionssoziologie. (964) Zum Charisma heißt es anlässlich etwa fünfzigseitiger Pikanterien über Sexualität und ehe auf zweieinhalb Seiten über "NS-Erfahrung" (612) gesprochen wird: "Hier steht am Anfang nicht der Begriff, sondern die Erfahrung und das durch das eigene Erleben in seiner Wirkungsmacht vergewisserte Phänomen". (540) [4]
Hinsichtlich "Wertfreiheit" - ohne Anführungszeichen - meint Radkau, Weber hätte sie zwar in den Debatten des Vereins für Sozialpolitik eingefordert, aber selbst nicht einhalten wollen oder können. Dies verwundere nicht, denn dabei gehe es um andere Dinge als das wissenschaftliche Begreifen: "Webers Kampf gegen die Werturteile [...] ist von dem Bewusstsein der eigenen Leidenschaftlichkeit und der Notwendigkeit ihrer Abkühlung getragen". (616) Dass "Wertfreiheit" Verzicht auf Gesinnungsethik und ebenso Verantwortungsethik heißt, um systematische Begriffe zu bilden, wie Weber unter anderem den Münchner Studenten in seinen berühmten Vorträgen "Wissenschaft als Beruf" und "Politik als Beruf" auseinander setzte, ist für Radkau nebensächlich. Stattdessen sei das oft gescholtene Urteil richtig, Weber hätte "Wertfreiheit" polemisch auf andere gemünzt und persönlich nicht auf sich bezogen - weshalb "Rettung der Wissenschaft vor den Werturteilen - und der Werte vor der Wissenschaft" (622) ihm gleich wichtig gewesen wären: "In gewissem Sinne bedeuteten Webers Postulat der Wertfreiheit mitsamt der Methodik der Idealtypen nichts anderes als die Übertragung naturwissenschaftlicher Einstellungen auf die Sozialwissenschaften". (627) Und außerdem: "Der Kampf gegen das Werturteil ist nur eine Epoche seines Lebens - nicht so sehr angewandte Wissenschaftstheorie, sondern vor allem Phänomen einer Phase des befreienden Um-sich-Schlagens nach dem düsteren Jahrzehnt und nicht zuletzt auch Element der Weberschen Wissenschaftsreligion". (642)
Aus Webers Wissenschaftslehre - mit einer Seitenangabe, die für dieses Buch nicht stimmen kann - stammt folgendes Zitat: "Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist [...] stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderen Gesichtspunkten. [...] Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem 'Stoff selbst entnommen' werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, dass er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewusst an den Stoff herangegangen ist, [...] das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt". (414) Die Frage muss gestellt werden: Welchen "besonderen Gesichtspunkt" wählt Radkau, um "kraft der Wertideen, mit denen er unbewusst an den Stoff herangegangen ist", jenen Zusammenhang zwischen Leben und Werk herauszuarbeiten, "auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt"? Auch der Autor einer Biografie muss sich fragen lassen: Welche Sicht seines "Stoffes" bestimmt seine Darstellung? Welches Menschen- oder Gesellschaftsbild liegt Radkaus Verständnis des Lebens und Werks Webers zu Grunde?
Das Zauberwort heißt Natur. Insgesamt vier Dimensionen der Natur - aus der Sicht des Lebensbildes à la Radkau - sind zu unterscheiden. Ein erster Bedeutungszusammenhang, der sich durchweg findet, betrifft die Sexualität als psychosomatisches Phänomen, und zwar ihre Leugnung und ebenso die Leidenschaft und die Potenz (oder Impotenz) - unter den Stichworten "vegetativ" (145, 249, 253), "Neurasthenie" (212 f.) und schließlich Liebeskraft als Agens der Schaffenskraft: "M. Rainer Lepsius glaubt zu erkennen, erst 1912, als die Beziehungen zu Mina Tobler intimer werden, hätten Webers Klagen über psychosomatische Zusammenbrüche' aufgehört". (948)
Eine zweite Dimension steckt im Stichwort Hassliebe - etwa Webers Hassliebe zur Natur, die sich in seiner ambivalenten Einstellung zu Bismarcks Patriarchalismus äußere, (148) seinem Selbsthass gegenüber den eigenen kulturellen Wurzeln im Luthertum, (498) Hassliebe zu den Deutschen (495-536) und schließlich das Animalische im Charisma, (604 ff.) im Feudalismus (663 ff.) und im eigenen unerfüllten (276) und schließlich erfüllten Liebesleben: "Und diese Macht, die Macht der Schönheit, beweist ihre Kraft gerade dadurch, dass sie jeglicher Moral spottet: 'In jeden Frevel, jedes Verbrechen, Else von Richthofen, ginge ich mit Dir, wenn Du es mich je hießest [...]: jedes, keins ausgenommen'." (798)
Der dritte Bedeutungshorizont zeichnet Natur als Schicksal, eine kosmische Macht, die "keine Gnade kennt". (264) Teil I und II thematisieren das Schicksalhafte einer Natur, die sich "rächt" - Die Vergewaltigung der Natur und Die Rache der Natur (letzteres ist ein Zitat aus Marianne Webers Gattenbiografie). [5] Radkau zitiert Jaspers aus einem Brief über Weber an Else Jaffé aus dem Jahr 1967, wo die Rede ist von einem "biologischen Prozess, der unentrinnbar ist", (826) und ein Buch aus dem Jahr 1941 über Bismarcks Arzt, wo es heißt: "Die Natur präsentierte abermals unerbittlich ihre Rechnung" (899) - woran Radkau jedenfalls soziologisch oder historisch nichts problematisch zu finden scheint.
Das vierte Szenario heißt Naturalismus. "Die sozialdarwinistische Überzeugung, die Gewalt sei ein naturhaftes Grundelement des menschlichen Lebens," so Radkau über Weber, "zieht sich durch sein gesamtes Werk". (221) Vom Naturalismus Darwins sei er "beeindruckt" gewesen, (156) den Darwinismus (236 f.) und den Naturalismus in den Sozialwissenschaften (265) habe er - wenngleich nach langem Sträuben - übernommen, (579) wie man in Wirtschaft und Gesellschaft, einem Werk des "versteckten Evolutionismus", (662) nachlesen könne: "Zu Prozessen der Evolution durch Selektion im darwinistischen Sinne, wenn auch ohne ein inneres Gesetz der Höherentwicklung, führt auch in Webers Sicht der Kampf". (662)
Angesichts der verschiedenen Szenarios solcher 'Rückkehr zur Natur' lässt sich sagen: Radkau ebnet die Differenz ein, die in der Soziologiegeschichte zwischen dem Sozialdarwinismus à la Spencer und der modernen Soziologie à la Weber besteht. Radkaus Rückbezug auf Natur - in vier Bedeutungszusammenhängen - stellt Weber in direkte Nähe zu Spencer. Dass Webers Replik anlässlich des Soziologentages 1910 auf Alfred Ploetz, den Begründer des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, durch ein "dickes Lob" eingeleitet worden wäre, (532) passt zu Radkaus Apotheose der Natur als animalischem Kampf: "Wenn Weber sich so entschieden dagegen wehrt, die Geschichte von unterstellten Evolutionsprozessen zu deduzieren, schließt das nicht aus, dass er - wenn auch widerwillig - zu solchen hingelangt: zu prädeterminierten Entwicklungen, die nichts mit humanem Fortschritt zu tun haben und insofern naturhafter sind als die Evolutionen fortschrittsgläubiger 'Naturalisten'." (671 f.)
Radkaus naturalistisches Verständnis der Gesellschaft und der Geschichte, das er Weber unterstellt und woraus sein Menschenbild sich herleitet, ist wohl jener "besondere Gesichtspunkt", um Weber noch einmal zu zitieren, "auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt." Die Werkbiografie wird auf die Lebensführung der Person reduziert, deren Natur jenseits von Humanität zuallererst auf Kampf und Gewalt angelegt (gewesen) sein soll. Kann denn Radkau ernstlich meinen, dies sei "die Wahrheit über Weber", wie er im Schlusssatz seines Buches sagt, wo er hinzufügt, diese Wahrheit nehme "dem Entzauberer nichts von seinem Zauber"?
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1959; Reinhard Bendix: Max Weber. An Intellectual Portrait, Garden City NY 1960; Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964; Günther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950. Mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001.
[2] Nebenbei sei bemerkt, dass die wiederholt erwähnte Verwandtschaftsbeziehung zwischen Max und Marianne Weber als "Onkel und Nichte", die einander heirateten, (235, 661) enigmatisch bleibt, denn fest steht lediglich, dass Max Weber sen. der Großonkel Mariannes war. Ohne weiteren Kommentar teilt Radkau mit, dass Marianne ihren Mann nach zwölfjähriger Ehe gegenüber ihrer Schwiegermutter in einem Brief als "unser 'Großer'" bezeichnete. (308)
[3] Vgl. Karl-Ludwig Ay/Knut Borchardt (Hg.): Das Faszinosum Max Weber, Konstanz (im Erscheinen); H. H. Bruun: Weber On Rickert: From Value Relation to Ideal Type, Max Weber Studies, Vol. I, 2001, 138-160; Talcott Parsons: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory With Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York 1937; Uta Gerhardt: Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt am Main 2001; Dies.: Darwinismus und Soziologie. Zur Frühgeschichte eines langen Abschieds, Heidelberger Jahrbücher 45 (2001), 183-215.
[4] Johannes Winckelmann: Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Tübingen 1986.
[5] Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926.
Uta Gerhardt