Joachim Radkau: Theodor Heuss, München: Carl Hanser Verlag 2013, 640 S., 34 s/w-Abb., ISBN 978-3-446-24355-2, EUR 27,90
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Eine Neuerscheinung aus der Feder des Bielefelder Historikers Joachim Radkau ist immer ein Ereignis. So feierten die Feuilletons auch seine jüngste Biographie über den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss als eine wohltuende Destruktion klassischer Mythen vom "Papa Heuss" und von einem stringenten Lebenslauf, der in teleologischer Sinngebung auf das höchste Amt im Staate zusteuert. Doch weniger darin liegen die Vorzüge dieser beeindruckenden Monographie, denn mit derlei naiven hagiographischen Ansätzen haben jüngst schon andere Biographien aufgeräumt. [1] Radkau greift vielmehr Anregungen aus seinen Arbeiten über "Das Zeitalter der Nervosität" und über Max Weber auf [2] und speist sie in die Biographie des ersten Bundespräsidenten ein. Heuss passe nicht zur vorherrschenden Mentalität der ersten Jahrhunderthälfte, deren Signum die Überreizung und Nervenschwäche war: "Lebenslang wird Heuss die Fähigkeit kultivieren, gegenüber der Flut der Reize die Ruhe zu bewahren." (59) Diese Gelassenheit verhinderte oftmals, dass Heuss sich in politischen Grundsatzfragen klar positionierte, und sie verkörperte dadurch die "Mehrdeutigkeit und Undeutlichkeit des politischen Liberalismus". So blieb Heuss auch frei von Feindbildern und ging gelassen mit Niederlagen und Enttäuschungen um; statt zu verbittern, bewahrte er sich sein "Vergnügen an der Politik". (67)
Von Friedrich Naumann kommend, knüpfte Heuss schon früh ein Freundschafts- und Kommunikationsnetz über Partei- und ideologische Grenzen hinweg, das von Sympathie, weniger von Kalkül geprägt war. Als Chefredakteur der Heilbronner "Neckar-Zeitung" bewahrte er Zurückhaltung gegenüber dem Furor des "Augusterlebnisses" 1914 und der krampfhaften Sinngebung des Krieges. Seiner Ausgewogenheit, seinem mangelnden Machtinstinkt und seiner fehlenden politischen Hausmacht war es dann geschuldet, dass er in der Weimarer Republik nur begrenzten Erfolg als Politiker und Publizist hatte. Radkau charakterisiert Heuss zutreffend als dialogischen, nicht systematischen Geist. Heuss entwickelte keine konsistente Demokratietheorie, sondern verstand sich als Erzieher zu einer "Demokratie als Lebensform" - eine Formel, die bei Heuss blass blieb. Umso unverständlicher ist es dann aber, dass Radkau die Rolle von Heuss als "Demokratieerzieher" in der Deutschen Hochschule für Politik nur streift, deren Gründungsprogrammschrift dieser verfasst hatte.
Es ist ein rhetorischer Kniff, wenn Radkau immer wieder von Rätseln spricht, vor denen der Heuss-Biograph stehe, die freilich schon andere Biographen überzeugend auflösen konnten: Dass der Kulturpolitiker und Vorsitzende des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller 1926 hartnäckig für das "Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften" gekämpft hatte, lässt sich aus einem bürgerlichen Verständnis von Hochkultur und Anstand erklären. Auf Abwege gerät Radkau, wenn er sich näher mit Heuss' Schrift "Hitlers Weg" (1932) befasst, eine der ersten und sehr erfolgreichen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus. Zwar arbeitet er klug die Ambivalenzen dieses Werkes zwischen Hellsicht und Fehleinschätzung heraus; doch wenn er der "verständnisvollen Grundhaltung des Autors" (179) einen taktischen Zug attestiert, um noch schwankende NSDAP-Wähler zu erreichen, dann begibt sich Radkau mit diesen Spekulationen auf dünnes Eis und wirkt nolens volens exkulpatorisch.
Nach dem Verlust seiner Ämter 1933 wurde "Heuss' Kunst der Balance" (196) - in Weimar noch eine Schwäche - zu einem Gewinn. Als Herausgeber der Zeitschrift "Die Hilfe" stand er im Zentrum des Naumann-Kreises. In sich selber ruhend, betrieb er keine offensive Sinnsuche, sondern vermittelte seine politischen Botschaften durch Camouflage. Vor allem in dem Verfassen mehrerer umfangreicher Biographien fand ein "kreativer Rückzug auf sich selbst" (191) statt. Heuss hatte Kontakt zu unterschiedlichen Ebenen des Widerstands. Radkaus Verdienst ist es, zugleich herauszuarbeiten, dass "zwischen Heuss' und Hitlers Deutschland keine scharfe Grenze" bestand, in seinem Umfeld waren zahlreiche "Übergangsgestalten" (198) zu finden, die dem Regime nahestanden. Wenn Heuss ihnen bürgerlichen "Anstand" zusprach, waren sie für ihn durchaus tolerabel, auch noch nach 1945.
Das Jahr 1945 interpretiert Radkau als Kairos in der Biographie von Heuss. Nun kamen seine einstigen Schwächen als Stärken zur Geltung: Die Ausgeglichenheit und breite Bildung, die Vielseitigkeit und Unentschiedenheit, die ihm beim Verfolgen klarer Ziele früher oftmals im Wege stand, die Integrationskraft und ein weites Kommunikationsnetz verkörperten nach Zeiten der Polarisierung "die Sehnsucht der Zeit". (265) Physisch und psychisch ungebrochen sowie politisch unbelastet, nahm er wichtige Aufgaben wahr: als Publizist, Landtagsabgeordneter, Parteivorsitzender der Liberalen und "Verfassungsvater" im Parlamentarischen Rat. Indem er skeptisch gegenüber großen Visionen blieb, qualifizierte ihn seine Kultur des Understatements für das höchste Staatsamt und machte ihn "stilbildend" (317) für die erfolgreiche bundesrepublikanische Gründungsgeschichte.
Der "anti-nervöse" Heuss stellte seine Amtszeit unter das Rubrum der "Entkrampfung der Deutschen" jenseits von Pessimismus und Alarmismus. Mit seinen zahlreichen Reden, in denen er auch die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und dem Widerstand gegen Hitler nicht scheute, mit seiner Korrespondenz, die sich an die Bevölkerung wie auch an die Eliten richtete, sowie mit seinem umfassenden Verständnis von Kultur, Kunst und Technik überbrückte er Gegensätze, schuf Vertrauen und trug zur Akzeptanz der jungen Demokratie bei. Völlig zu Recht weist Radkau darauf hin, dass der Erfolg der Westorientierung nicht allein auf einsamen Entscheidungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer beruhte, sondern auch auf einem "Wandel des politisch-geistigen Gesamtklimas" (407), an dem die Heuss'sche Kunst der Kommunikation und des Atmosphäre-Schaffens Anteil hatte.
Das Verhältnis zu Adenauer deutet Radkau subtil nicht allein als Gegensatz, sondern er arbeitet auch Gemeinsamkeiten und dialektische Verschränkungen heraus. In der Präsidentenkrise 1959, als es in der Frage der Nachfolge von Heuss zu einem schweren Zerwürfnis zwischen beiden kam, nimmt Radkau einen interessanten Perspektivenwechsel vor und beleuchtet die Überschätzung und die Schwächen von Heuss in dieser Auseinandersetzung. Dass die Politik der Entkrampfung am Ende seiner Amtszeit schließlich auch an ihre Grenzen stieß und der erzieherische Gestus penetrant wirken konnte, macht Radkau anhand des Konflikts von Heuss mit der Anti-Atomtod-Bewegung deutlich. Heuss drohte hier mit seiner starren Haltung den Anschluss an die Sorgen und Debatten einer jüngeren, politisch bewussten Generation zu verlieren, die sich von einer Politik des gemütlichen Ausgleichs nicht mehr angesprochen fühlte. Der Band klingt aus mit einer so feinsinnigen wie klugen Betrachtung der Altersliebe von Heuss zu der in New York lebenden Emigrantin Toni Stolper.
Joachim Radkau hat ein eigenwilliges Buch geschrieben, das ungewöhnliche Sonden an die Biographie von Theodor Heuss anlegt und zu innovativen Interpretationen führt. Sein assoziativer Denkstil, sein bestechend breites Hintergrundwissen, sein Mut zu unkonventionellen Kontexten, seine Fähigkeit, Ambivalenzen herauszuarbeiten, und seine beeindruckende Quellenkenntnis können einige überraschende Schichten dieser Persönlichkeit freilegen, die auch ein Stück Zeitgeschichte aufschlüsseln. Radkaus Narrativ der "Entkrampfung" ist ein tragfähiger Ansatz, auch wenn dabei etwas in den Hintergrund gerät, dass Heuss durchaus Feindbilder kannte und Konflikte austragen konnte. Manche wichtige Aspekte bleiben hingegen unterbelichtet. Mitunter versteigt sich Radkau sogar zu abwegigen Spekulationen, wenn er behauptet, Heuss sei zeit seines Lebens "im Kern ein Wirtschaftsliberaler" gewesen (92), was seine Herkunft vom sozialen Liberalismus eines Friedrich Naumann verkennt. [3] Und auch Radkaus Erzählung ist nicht frei von teleologischen Zügen. Wenn sich nach 1945 die sogenannten Schwächen von Heuss in Stärken verwandelten und als Politik der Entkrampfung genau dem Bedürfnis der Zeit entsprachen, dann werden wir Zeuge einer Erfüllungsgeschichte. Doch ungeachtet dieser Kritikpunkte hat Radkau eine so anregende wie unverzichtbare Arbeit über Theodor Heuss vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Ernst Wolfgang Becker: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011; Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, München 2012.
[2] Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; Ders.: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005.
[3] Thomas Hertfelder: Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013.
Ernst Wolfgang Becker