Bernd Heidenreich / Hans-Christof Kraus / Frank-Lothar Kroll (Hgg.): Bismarck und die Deutschen, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2005, 181 S., ISBN 978-3-8305-0939-4, EUR 22,00
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Das historische Erbe und die säkulare Bedeutung Bismarcks versinnbildlichen sich - so die These des vorliegenden Sammelbandes - in dem viel zitierten Diktum des Schweizer Historikers Jacob Burckhardt. "Der große Mann", so heißt es in den 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen', "ist ein solcher, ohne welchen uns die Welt unvollständig schiene, weil bestimmte große Leistungen nur durch ihn, innerhalb seiner Zeit und Umgebung möglich waren und sonst undenkbar sind [...]. Kein Mensch ist unersetzlich -, aber die Wenigen, die es doch sind, sind groß."
In der Tat lässt sich an der Figur Bismarcks das Gewicht der Persönlichkeit im historischen Prozess nahezu idealtypisch exemplifizieren, wie Hans-Christof Kraus in seinen einleitenden "Variationen über historische Größe" eindrucksvoll unterstreicht. Bismarcks Staatskunst brachte Preußen, die traditionell schwächste unter den Großmächten Europas, in eine Hegemonialstellung auf dem Kontinent. An seinem im Herbst 1862 installierten "Konfliktregiment" als preußischer Ministerpräsident und Außenminister liefen sich alle Versuche der Liberalen fest, die preußische Militärmonarchie fundamental umzugestalten und eine Herrschaft des Parlaments aufzurichten. Mit der Reichsgründung von 1871 verwirklichte er den seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon unerreichbar gebliebenen Traum vom deutschen Nationalstaat. Er war es, der dem "Schattenreich" der Liberalen von 1848/49, trotz des Widerstandes der Vormächte des Kontinents gegen eine Zusammenballung des deutschen Potenzials, mit "Eisen und Blut" das Leben einhauchte. Er erdachte und konzipierte den Verfassungsbau des neuen Gebildes, der die Nation an den Staat heranführte, sie jedoch zugleich von der Macht fern hielt, mit all den hieraus erwachsenden Folgen für den weiteren Gang der deutschen Geschichte. Und ihm gelang es als Kanzler des Deutschen Reiches, das Misstrauen der Nachbarmächte gegenüber der unaufhaltbar scheinenden Dynamik des Machtblocks in der Mitte des Kontinents zu zerstreuen, indem er das Reich für territorial saturiert erklärte und alle auf Offensive und gewaltsame Veränderung drängenden Kräfte unter Kontrolle brachte.
Ohne das Wirken Bismarcks, das kann man den 13 Beiträgen des reich bebilderten Bandes, der aus einer Konferenz der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung hervorgegangen ist, entnehmen, wäre die preußische, die deutsche und die europäische Geschichte der Jahre 1862 bis 1890 anders verlaufen.
Unter vier zentralen Perspektiven beleuchtet der Band diese Feststellung. Jürgen Angelow und Ulrich Lappenküper skizzieren die Politik Bismarcks in der Reichsgründungsphase und nach 1871 im europäischen Kontext. Ein zweiter Abschnitt widmet sich dem Verhältnis Bismarcks zu den diversen Interessengruppen im Reich. Hier geraten die Liberalen (Günther Kronenbitter), der politische Katholizismus (Hans-Georg Aschhoff), die sozialistische Arbeiterbewegung (Wilfried Rudloff) sowie die Frage nach dem Primat der Politik gegenüber den Ansprüchen der Generalität (Sönke Neitzel) in den Blick.
Ein dritter Fokus richtet sich auf Regionen und Personen. Thematisiert werden die Beziehung Bismarcks zu Friedrich Wilhelm IV. (Frank-Lothar Kroll), Bismarcks erste Gehversuche auf dem diplomatischen Parketts als Gesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main (Rainer Koch) sowie Bismarcks Politik gegenüber den süddeutschen Staaten vor 1871 (Thomas Nicklas). Die Auswahl dieser Themen freilich mutet willkürlich an und vermag so recht nicht zu überzeugen. Warum, so muss man fragen, wird nicht das Verhältnis Bismarcks zu jenem Monarchen vorgeführt, der ihn 1862 ins Amt des preußischen Ministerpräsidenten holte, der über 26 Jahre hinweg sein Wegbegleiter blieb, dessen Frau, Sohn und Schwiegertochter zu den schärfsten Kritikern des Kanzlers gehörten und der trotz allen familiären Sperrfeuers und mannigfaltiger politischer Differenzen unbeirrbar an ihm festhielt? Auch die beiden Mentoren Bismarcks, die Gebrüder Gerlach, oder die Riege der preußischen Konservativen insgesamt, die beißende, ideologisch motivierte Konflikte mit Bismarck austrugen, wären einer näheren Betrachtung wert gewesen. Denn hier, in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit seinen Standesgenossen über die Formeln von "Realpolitik" oder "Prinzipienpolitik", hätte sich paradigmatisch zeigen lassen, welch revolutionär neuen Ansatz Bismarck vertrat, von welchen Polen, vor allem aber von welchen Methoden sein politisches Koordinatensystem bestimmt war und welch große retardierende Potenz gegen die Zeitströmung sich in ihm verkörperte.
Die Beurteilung Bismarcks durch die Nachwelt ist Gegenstand einer vierten Gruppe von Beiträgen. Frank-Lothar Kroll zeichnet das Bild einer in der deutschen Geschichte einzigartig gebildeten Politikergestalt, die trotz aller politischen Finten und Kniffe und ungeachtet aller pragmatisch-skrupellosen, nur dem Erfolg dienenden politischen Technik, doch tief in religiösen Überzeugungen verwurzelt war und deren Handeln von einer philosophisch anmutenden Sinnorientierung über Recht und Unrecht im politischen Handeln bestimmt war. Der Beitrag von Matthias Stickler verdeutlicht den hypertrophen Kult um den Reichsgründer, der seit Jahrhundertwende und Weltkriegserlebnis immer bizarrere Formen annahm. Die Funktionalisierung Bismarcks, jener steingewordene Bismarckkult, enthüllt schlaglichtartig die Mentalitäten, Werthaltungen und Ansprüche der Bismarck nachfolgenden Generationen. Jener Nationalismus, Militarismus und Imperialismus, dem sie frönten und in dessen Zuge Bismarck zum "deutschen Recken" und "Roland" umstilisiert wurde, zeigt, wie wenig das Denkmal mit seiner Ursprungsfigur gemein hatte.
Wie sehr auch die Geschichtswissenschaft dem Bismarck-Mythos erlag und wie stark sie ihre Gegenwartserfahrungen in die historische Figur hineinprojizierte, ist das Thema des letzten Beitrags von Hans-Christof Kraus über "Bismarck im Spiegel seiner Biographen". Er schlägt in Form einer kommentierten Bibliografie den Bogen von Hesekiels erstem biografischen Versuch von 1869 bis zu den großen und wissenschaftlich abgewogenen Darstellungen unserer Zeit.
Der Band aus der Feder ausgewiesener Sachkenner stellt ohne Zweifel eine präzise und gut lesbare Einführung in das Wirken und die historische Bedeutung Bismarcks dar. Für den Adressatenkreis der Mittler der politischen Bildung wäre es allerdings angebracht gewesen, auch auf die zahlreichen Forschungskontroversen zu einzelnen Teilaspekten von Bismarcks Politik zu verweisen und, nicht zuletzt im Spiegel der Kontinuitätsdebatte von 1871 bis zur Vereinigung von 1990, eine Würdigung und Einordnung seiner historischen Leistung zu versuchen.
Rainer F. Schmidt