Lüder Meyer-Arndt: Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte. Mit einem Geleitwort von Imanuel Geiss, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, XIII + 407 S., 28 Abb., ISBN 978-3-412-26405-5, EUR 24,90
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Die "Julikrise" von 1914, jene knapp fünfwöchige Periode vom Attentat in Sarajewo bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, gehört nicht nur zu den am intensivsten untersuchten Zeiträumen des kriegerischen 20. Jahrhunderts. Die Deutungen, die sie in der Historiographie erfahren hat, könnten auch bis heute nicht gegensätzlicher sein. Konsens besteht lediglich in drei Punkten: Die deutsche Reichsleitung wirkte mit ihrem "Blankoscheck" an Österreich-Ungarn Akzent setzend und Krisen verschärfend; sie nahm den Krieg als Mittel der Politik billigend in Kauf und visierte ihn als mögliches Ergebnis der Krise sehenden Auges an. Zugleich gilt jedoch: Trotz der Eskalation durch Berlin trafen hier mehrere Krisenkalküle aufeinander, gab es keine einzige europäische Macht, die den Krieg partout zu vermeiden trachtete, die ganz auf den Frieden setzte und die alles unternahm, um den Konfliktaustrag mit den Waffen zu verhindern.
Will man also die Verantwortlichkeiten für den Kriegsausbruch ergründen, will man zutage fördern, weshalb die Krise zum Startschuss für die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts wurde, dann wird man zwei Ergebnisse der Forschung zur Kenntnis nehmen müssen: die Tatsache, dass auf allen Seiten Perzeptionen, Mentalitäten, politische und militärische Strukturen vorherrschend waren, die den bewaffneten Konflikt zum legitimen Mittel der Politik machten, sodass die Schwelle zwischen Krieg und Frieden eine gleitende, keine abrupte war; und die Feststellung, dass die politischen Weichenstellungen der "Julikrise" von einem komplizierten diplomatischen Wechselspiel zwischen mehreren rivalisierenden Parteien und Positionen bestimmt wurden, so dass die Binnensicht auf eine der beteiligten Mächte zwangsläufig zur Einsichtigkeit, um nicht zu sagen: zur Kurzsichtigkeit führt.
Lüder Meyer-Arndt, einem Juristen und Amateurhistoriker, sind solche Erkenntnisse und Überlegungen fremd. Sein inhaltlicher Ansatz, weshalb die Reichsleitung dem Krieg nicht auswich, den sie kommen sah; weshalb sie Österreich-Ungarn mit der "Blankovollmacht" zum agent provocateur der Krise machte; und welches Kalkül sich hinter diesem Spiel mit dem Feuer verbarg, führt geradewegs in die Falle des Monoperspektivismus. Diese Form von deutscher Nabelschau aber ist um so gravierender, als Meyer-Arndt gar nicht erst den Versuch macht, das Koordinatensystem, in dem die "Julikrise" angesiedelt ist, zu bestimmen. So übergeht er das Jahrzehnt der Krisen vor dem Weltkrieg; er analysiert nicht die Strategie Berlins in der bosnischen Annexionskrise als force profonde der "Julikrise"; er erwähnt mit keinem Wort, dass der Balkan längst zum Pulverfass Europas geworden war; er setzt sich weder mit der bei allen Mächten vorherrschenden irrationalen Perzeption des Krieges noch mit der labilen, von Blockdenken beherrschten und auf Krieg zutreibenden labilen Verfassung des europäischen Mächtesystems auseinander. Auch die in Wien und St. Petersburg grassierende Revolutionsfurcht, die den Krieg als Mittel der Systemstabilisierung begriff, bleibt unerwähnt; und schließlich widmet er den militärischen Aufmarschplänen, die bei allen Mächten den Gedanken der Offensive kultivierten, keine Aufmerksamkeit.
Sucht man somit vergeblich nach einer Ausgangslage für die "Julikrise", so kann auch der methodische Ansatz des schlecht lektorierten Buches nicht überzeugen. In einer Art von tagebuchähnlichen Rekonstruktion der Ereignisse vom Mord an Franz Ferdinand im bosnischen Sarajewo am 28. Juni bis zur deutschen Kriegserklärung an Frankreich am 3. August sucht Meyer-Arndt zu ergründen, welches Kalkül die Berliner Reichsleitung verfolgte, warum es zu keiner konzertierten Aktion zwischen Kaiser, Reichskanzler, Auswärtigem Amt und Generalstab kam und weshalb man von Beginn der Krise an fest und unverrückbar an der Seite Wiens stand und dort auch stehen blieb. Hinzu kommt die mehr verdunkelnde als erhellende Anmerkungspraxis des Autors, der seine Quellen kumulativ für jede Seite aufführt, dabei einige glatt unterschlägt und von einer sauberen Zitierweise weit entfernt ist. Misslich ist auch der Umstand, dass im Inhaltsverzeichnis sowohl die letzten beiden Kapitel (immerhin 54 Seiten) als auch Anmerkungsapparat, das eigenwillig gestaltete Literaturverzeichnis sowie das Register einfach unterschlagen werden.
Ist das Buch damit weit entfernt davon, einen innovativen, die bisherige Forschung weiterführenden konzeptionellen Ansatz zu bieten, so gilt das für die benutzten Quellen nicht minder. Es handelt sich, mit Ausnahme des Journals des Hoffouriers im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin - aus dem Meyer-Arndt jedoch so gut wie keine Erkenntnisse zieht -, durchwegs um sattsam bekannte Dokumente und Bestände, die weder vom Inhalt noch von der Auswertung durch den Autor dazu angetan sind, dessen Ankündigung zu entsprechen, "daß die hier vorgetragene Sicht in Teilen neu ist" (5).
Die Ergebnisse, die Meyer-Arndt mit seinen Werkzeugen zutage fördert, halten sich denn auch in bescheidenem Rahmen und führen die Forschung keinen Schritt weiter. Er sieht in Berlin eine Mischung aus "Katastrophenpolitik" (286), defensiver Prestigewahrung ("Regeln der Ehre", 289), blankem Dilettantismus (die Entscheidungsträger qualifiziert er als "sämtlich Fehlbesetzungen" ab 290) und "Ressortseparatismus" (292) am Werk. Dementsprechend verwirft er in einem Rundumschlag gegen die Historiker der Zunft auch alle bisher vorgelegten Erklärungsmodelle: das "Weltmachtmodell" Fischers, die von Hillgruber, Erdmann und anderen verfochtene "Politik des kalkulierten Risikos", um die Entente auseinander zu manövrieren, aber auch die These von Stig Förster, dass Chaos, Irrationalität und absurde Entscheidungen den Gang der Krise bestimmten. Für ihn gab es überhaupt keine Konzeption Berlins in der "Julikrise". Alle Versuche der Forschung, eine solche zu entwickeln, hält er für nachträgliche Konstruktionen, die in den Studierstuben der Historiker entstanden sind, aber keineswegs als handlungsleitende Maxime in der konkreten Situation zu finden sind. Dementsprechend lautet sein Fazit: "die deutschen Entscheidungsträger haben den Krieg nicht gewollt. [...] Der Ausbruch des Krieges war aus deutscher Sicht ein schlimmer Unfall, verursacht durch zahlreiche haarsträubende Fehler des Kaisers, des Reichskanzlers, des Staatssekretärs v. Jagow und zwei oder drei anderer Diplomaten in leitenden Positionen. [...] Der Zweck, das Ziel des Krieges war die Rettung Österreich-Ungarns, man könnte von einem 'Rettungskrieg' sprechen." (305f.)
Diese "Chaostheorie" eröffnet keine neue Deutungsvariante der deutschen Politik. Dazu ist sie argumentativ zu dürftig begründet und methodisch zu oberflächlich abgesichert. Vor allem aber wird man den Verdacht nicht los, dass Meyer-Arndt für die Komplexität der bisher vorgelegten Erklärungsmodelle nicht die notwendige Sensibilität entwickelt, sondern diese prima vista als untauglich abqualifiziert. Natürlich gab es in Berlin Kompetenzgerangel, mangelnde Koordination, auch diplomatische Kurzsichtigkeit und ein Spiel mit dem Feuer in einer Mischung aus Resignation und Offensive. Aber daraus den Schluss ziehen zu wollen, dass der Krieg ein "Unfall" gewesen sei, in den Ignoranten und Stümper blind hineingestolpert seien, bedeutet doch einen Rückfall in atavistische Deutungsmuster, die die Forschung längst hinter sich gelassen hat.
Rainer F. Schmidt