Sonja Levsen: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900-1929 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 170), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 411 S., 10 Abb., ISBN 978-3-525-35151-2, EUR 46,90
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Am 18.2.1903 sprach sich in einer Debattierveranstaltung in Cambridge eine deutliche Mehrheit der teilnehmenden Studenten gegen Carlyles Bonmot aus, England könne eher auf Indien als auf Shakespeares Werke verzichten. Anders als bei den kulturnational ausgerichteten Tübinger Studenten hatte der Imperialismus in Cambridge die Oberhand gewonnen. Wie ist dann aber die bekannte Radikalisierung der deutschen und auch der Tübinger Studentenschaft in den Zwanzigerjahren und die Pluralisierung in Cambridge zu erklären? Was hat es in diesem Zusammenhang also mit dem Ersten Weltkrieg auf sich?
Sonja Levsen geht dem in der Kultur- und der Sozialgeschichte umstrittenen Zäsurcharakter des Ersten Weltkrieges in ihrer Dissertation nach, die ein weiteres Produkt aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" ist. War der Große Krieg Katalysator, Abschluss, Neubeginn von längerfristigen Entwicklungen?
Die Autorin möchte die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges im Hinblick auf englische und deutsche Studenten und ihre Identitätskonstruktionen - auch in dieser Qualifikationsarbeit wimmelt es von Metaphern aus der Ingenieursprache - untersuchen. Betrachtet wird der Zeitraum von 1900, teilweise auch früher, bis 1929. Mit Tübingen und Cambridge wählt Levsen zwei traditionsreiche klassische Universitäten als Beispiele aus, die beide nichtindustrialisierte Kleinstädte waren und sind. Problematisch ist allerdings die Fokussierung auf Colleges und Verbindungen, beides ganz andersartige Institutionen, was die Verfasserin auch einräumt. Die Colleges bilden in Cambridge den Kern der Universität, Verbindungen sind außeruniversitäre studentische Zusammenschlüsse, die in Tübingen nur ca. 60 Prozent der Studentenschaft abdeckten. Zudem gab es eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Verbindungen: Corps, Burschenschaften, Landsmannschaften, Turner, Sänger, konfessionelle, farbentragende und nichtfarbentragende Vereinigungen. Die Aussagen, die Levsen für die deutsche Seite trifft, sind daher in ihrer Repräsentativität fragwürdig, zumal die Quellenbelege bisweilen spärlich bleiben. Auch die Colleges hatten natürlich ihr je eigenes Profil. Aussagen über das Studentenleben lassen sich, wenn sie etwa aus campusweiten Zeitschriften wie der Cambridge Review stammen, aber wohl eher verallgemeinern, als wenn sie aus der Chronik einer Burschenschaft herrühren.
Den Einwänden der Andersartigkeit von College und Verbindung kann Levsen entgegenhalten, dass beide Institutionen das Leben der Studenten primär prägten und bestimmten. Das gilt besonders für die ersten Semester, in denen ernsthaftes Studieren sowohl in Cambridge als auch in Tübingen durch das soziale Umfeld geradezu geächtet wurde. Schließlich galt es, den Charakter zu bilden und die soziale Dimension des Studentendaseins zu entdecken und - besonders wichtig - zu repräsentieren; Konzentration auf das Studium war dabei eher ein Störfaktor.
Levsen untersucht zunächst für die Vorkriegszeit die soziale Verortung der Studenten, hierauf deren männliche Identität. Im dritten Kapitel widmet sie sich dem studentischen Nationalismus. Alle drei Themen werden dann auch für die Nachkriegszeit erörtert. Der Krieg selbst bleibt weitgehend ausgeblendet, die meisten Studenten zogen ins Feld und somit versiegen die von Levsen bevorzugten Quellengattungen wie Universitäts- und College- bzw. Verbindungszeitschriften und entsprechende Archive. Nach einigen Sätzen über die Augustbegeisterung, die bei den Studenten hüben wie drüben tatsächlich feststellbar ist, gerät der Krieg damit zur Blackbox.
Die starke These der Studie ist, dass der studentische deutsche Sonderweg in Richtung Militarismus und "militarisierte Männlichkeit", Rassismus und "Mangelgemeinschaft" erst mit und primär durch die deutsche Niederlage beschritten worden sei. Vorher ähnelten sich die Mentalitäten und Verhältnisse stärker, ja stellten sich bisweilen geradezu umgekehrt dar als in der Nachkriegzeit. So sei vor dem Krieg "das Rassenkonzept im Cambridger Diskurs wesentlich gängiger" (170) gewesen, "sozialdarwinistische Argumentationen" in Tübingen "noch sehr viel seltener" als in Cambridge (171) und auch der Imperialismus spielte dort eine größere Rolle. Ob es nun wirklich die Niederlage oder unterschiedliche Kriegserfahrungen waren, welche zur Nachkriegsdivergenz führten, muss angesichts der Ausblendung des Krieges in Levsens Studie offen bleiben. Oder spielte vielleicht auch der Versailler Vertrag eine wichtige Rolle, der in seinen Auswirkungen leider unterbelichtet bleibt? Der von Levsen in Cambridge festgestellte Nachkriegs-Internationalismus und der verschärfte Tübinger Nachkriegs-Nationalismus dürfte wesentlich eher mit den gegensätzlichen Erfahrungen mit dem Völkerbund und anderen Folgewirkungen des Versailler Vertrages zu tun haben als mit der Erfahrung des Empires als multinationales Gebilde, die ja vor dem Krieg Anlass für Rassismus und Imperialismus gewesen war.
Die sprachlich elegante Studie besticht trotz der Monita durch eine überzeugende Argumentation gegen traditionsdeterministische Engführungen und durch eine zugespitzte These, die anhand anderer Beispiele und Quellen überprüft werden sollte.
Peter Hoeres