Sonja Levsen: Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich, 1945-1975, Göttingen: Wallstein 2019, 711 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3563-9, EUR 49,00
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Die "Ankunft" (Axel Schildt) der Bundesrepublik in einer Demokratie westlichen Zuschnitts war nach 1945 keine Selbstverständlichkeit, Debatten über die Erziehung der Jugend in den Jahren nach dem Krieg deshalb mehr als ein unverbindlicher Gedankenaustausch unter pädagogischen Experten. Ganz direkt zielten die - im deutschen Fall - von amerikanischer Reeducation-Politik vielfältig flankierten Diskussionen über Autorität und die Reform der Schule, Gehorsam und Gewalt auf das demokratische Projekt und eine bessere Zukunft. Theodor W. Adorno hatte die Herausforderungen 1966 pointiert auf die seitdem vielzitierte Formel gebracht, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei". Dabei ging der von der Frankfurter Schule vielfältig diskutierte Autoritarismus - und das ist die Ausgangsthese der von Sonja Levsen vorgelegten deutsch-französischen Vergleichsstudie - bei näherer Betrachtung im Narrativ einer verspäteten Aneignung demokratischer Kultur niemals vollständig auf. Die sozialwissenschaftliche Deutung von Gehorsam als einem pädagogischen Problem, die argumentative Verknüpfung von Erziehungsstil und demokratischen Defiziten erweise in vergleichender Perspektive vielmehr sich als sehr spezifisch. (13)
Dass Adorno zeitgenössisch den Begriff der Bindung mit derselben Verve verwarf wie den der Autorität, ist im Zeitalter von 'Attachment Parenting' eine hübsche Pointe, führt zugleich die verwirrende Vielfalt der Stimmen und die Komplexität der von Sonja Levsen auf mehr als 600 Seiten umsichtig analysierten Debatten klar vor Augen. Levsen kommt damit praktisch durch die Hintertür: War der Wandel der Erziehung in Westdeutschland die Vorbedingung jeder demokratischen Erneuerung, hätte die Analyse französischer Debatten über Erziehung einen ähnlichen Befund zu erbringen. Französische Experten der Kindheit aber - und das ist ein zentrales Ergebnis ihrer Studie - haben im Untersuchungszeitraum einen vergleichbaren Sachzusammenhang nicht formuliert. Vielmehr erwies sich im französischen Fall die mit Moritz Föllmer als "eigentümliche Mischung" beschriebene Kombination von Autoritätsgläubigkeit und Individualismus als überaus beständig. (23) Als Antwort auf die militärische Niederlage von 1940, die der Widerstand als ein Versagen der Eliten interpretierte, stand deshalb im Nachkrieg vielmehr die Forderung nach umfassender Ausweitung des Bildungszugangs. (59)
Levsen nähert sich in ihrer Studie, die grundsätzlich den Schwerpunkt auf die schulische Erziehung der Kinder im Alter von zehn bis 19 Jahren legt, einer Antwort auf diese Fragen in sieben Schritten, wobei das Jahr 1968 als Wasserscheide konzipiert ist. Eingangs untersucht sie die enge Verschränkung von Vergangenheitsdiagnosen mit Erziehungsvisionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Formierung westdeutscher und französischer Schulkulturen und neuer Formen der Schülerpartizipation bilden den Kern des zweiten Kapitels. Konturen politischer Bildungsarbeit, auch in den Jugendverbänden, werden im dritten Kapitel kontrastierend diskutiert, wo sich mit den Ausführungen zum Algerienkrieg die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in ihrer ganzen Schärfe erweisen. Überzeugend analysiert sie schließlich die komplexe Frage der grundlegenden Transformation zeitgenössischer Strafregime in Schule und Familie in ihren Ungleichzeitigkeiten und vielen Unterschieden. Kapitel fünf erforscht Konturen der Sexualerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren. Der sechste und siebte Abschnitt schließlich beleuchten 68 als Zäsur und Katalysator für die Forderungen der Schülerbewegungen in Westdeutschland und Frankreich.
Im Ergebnis bestätigt sie im ersten und sehr viel umfangreicheren Teil den Befund der "langen" sechziger Jahre für die Bundesrepublik als einer Phase allmählichen Wandels, bevor sie im zweiten Teil ein klares Signal für eine Lesart von 1968 als einem Ereignis mit hoher Zäsurwirkung insbesondere für Frankreich setzt. Implizit gelingen ihr darüber hinaus wichtige Einsichten, inwiefern der Kalte Krieg nationale Denkhorizonte und im Vorfeld von 68 die Wahl der Referenztexte bestimmt hat: "Während westdeutsche Schülergruppen Theodor Adorno, Alexander Neill und Wilhelm Reich für sich entdeckten und autoritäre Demokratiedefizite gepaart mit sexueller Repression beklagten, begriffen französische lycéens mit Marx und Bourdieu die Klassenstruktur als zentrales Problem des Bildungswesens und damit der französischen Gesellschaft." (262)
Grundlage ihrer Analysen bilden schwerpunktmäßig Druckschriften und Zeitschriften der Lehrer-, Jugend- und Elternverbände, Jugendzeitschriften und Erziehungsratgeber (nicht aber Schulbücher). Diskurse und Praktiken erweisen sich Levsen zufolge auf dem Feld der Erziehung in besonderer Weise als eng verschränkt. Autoren pädagogischer Zeitschriften hätten dort Erfahrungen verarbeitetet und diskutiert, die sie als Lehrer, Jugendleiter oder in der Lehrerbildung gemacht hatten. Aus bayerischen Richtlinien und kultusministeriellen Bekenntnissen zur "Einübung und Ausübung demokratischer Gesinnung" (68) auf eine starke Stellung der Schülermitverwaltungen zu schließen, greift dennoch möglicherweise zu kurz (Papier ist bekanntlich geduldig). Überhaupt erweist sich bei Levsen die föderale Ebene im französischen Vergleich als insgesamt vergleichsweise wenig heterogen, wie sie in den zusammenfassenden Überlegungen noch einmal betont, zugleich unter Verweis auf die frühzeitige Anerkennung von Schülerrechten und Schülerzeitungen in den 1960er Jahren in Hessen die Bedeutung der Bundesländer als "Innovations- und Experimentierräume" ausdrücklich hervorhebt. (628)
Implizit bewertet Levsen schließlich die Dominanz sozialwissenschaftlicher Studien für die Bundesrepublik auch als Langzeitwirkung der Emigration reformpädagogischer Pioniere, soziologischer Experten und jüdischer Analytiker in den Jahren des Nationalsozialismus, betont zugleich den im Vergleich hohen Stellenwert kinderpsychologischen Wissens für die Debatten in Frankreich seit 1945. Dass es den dicht gewebten Netzwerken deutsch-französischer Verständigung zum Trotz darüber zeitgenössisch nie zu einem echten Austausch gekommen ist, gehört zu den besonders interessanten Befunden ihrer Studie, die insbesondere für den Bereich der Elternbildung eine hohe Stabilität nationaler Expertenkulturen und ein langsames Tempo transnationalen Wissenstransfers konstatiert. Die jüngst vielfach geforderte Distanz zu zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Deutungen, so ihr Fazit, habe sich damit in der komparativen Perspektive "fast von selbst" ergeben. (36)
Wer an der dichten Beschreibung eines 'Coming of Age' in den hier untersuchten Jahren interessiert war, konnte zuletzt die autobiografischen Schriften der französischen Chronistin Annie Ernaux zur Hand nehmen. [1] Nirgendwo sonst fanden sich vergleichbar minutiös die Herausforderungen beschrieben, die es bedeutet hat, im Kino den libertären Verheißungen von Françoise Sagan zu erliegen ('Bonjour Tristesse', 1958) und diese ungeprüft als ein Versprechen auf das eigene Leben zu lesen, zugleich den restriktiven Sexualnormen der französischen Provinz unterworfen zu bleiben mit einer Unerbittlichkeit, die möglicherweise in Vergessenheit geraten wäre, hätte nicht sie die eruptive Wucht des französischen Feminismus im Mai 1968 erklärt (und im zweiten Teil der hier anzuzeigenden Studie erfahren diese Zusammenhänge eine souveräne Deutung). Die erfahrungsgeschichtliche Dimension des Erziehungswandels hat Levsen dabei in ihre Überlegungen nicht systematisch eingewoben, wohl aber ein breites Panorama gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse vorgelegt, das die angemessene Einordnung der individuellen Erfahrung in den zeitgenössischen Kontext erst ermöglicht.
Für Verflechtungsgeschichten und autobiografische Projekte, die in den Konturen nationaler Kultusbürokratien weniger reibungslos aufgegangen sind, erweist sich der Ertrag vergleichender Studien als ungleich schwerer zu bestimmten. Austausch und Transfer waren möglicherweise nicht die Regel, konnten jedoch fallweise größtmögliche Wirkung entfalten. Die Leben bedeutender deutsch-französischer Mittler wie Joseph Rovan und Alfred Grosser zeichneten sich gerade durch ihre konzise Kenntnis von mehr als einer Schulform aus, kombinierten profunde Einsichten in das humanistische Gymnasium preußischer Prägung mit typischen Merkmalen französischer Bildungskarrieren. Diese spezifischen Formen von Hybridität (Stuart Hall) jedoch wird ein Vergleich, der auf das Typische und Allgemeine stärker zielt, mehr einebnen als betonen. Auch die koloniale Erfahrung, die vielfältigen Spuren der französischen Präsenz in Indochina und Algerien oder die Rolle der Unesco in Paris in ihrem Anspruch als global agierende Bildungsbehörde gehen in einer auf "das Hexagon" konzentrierten Studie nicht auf. Und zu fragen wäre schließlich, inwieweit vier Jahre Vichy-Regime unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung tatsächlich angemessen mit den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft sich vergleichen lassen: Freud war in Wien nicht lediglich von "Tabuisierung" (436) bedroht, sondern musste ganz konkret um sein Leben fürchten (und seine Flucht führte über Paris).
Mögliche Einwände, die auf den Vergleich als Methode stärker zielen als auf Inhalt und Ergebnisse der vorliegenden Studie, eröffnen zugleich die Möglichkeit, den Fragehorizont der von Levsen vorgelegten Überlegungen noch einmal klarer zu benennen. Sie nehmen ihren Ausgang in Fragen nach dem spezifischen Ort der Bundesrepublik in der Demokratiegeschichte Westeuropas, damit in Debatten der deutschen Geschichtswissenschaften über Verwestlichung und Liberalisierungsprozesse, die Levsen zufolge in Frankreich kaum oder wenig rezipiert worden sind. Dabei fragt ihre Studie nach Schule als Sozialisationsort und Arena der Partizipation, nach den Normen der Erziehung innerhalb sprachlicher Grenzen (denn im Kern vollzieht sich ihr Konzept der Erziehungskulturen jenseits der Mehrsprachigkeit). Sichtbar wird im französischen Fall ein grundsätzlich anderes Verständnis von Erziehung, "das dieser weder dieselbe Heilwirkung noch dasselbe Gefahrenpotenzial zuschrieb wie der deutsche Diskurs". (555) Damit hat Levsen den deutsch-französischen Vergleich überzeugend aus dem engen Fragehorizont von Erbfeindschaft und Versöhnung gelöst. Nicht in erster Linie versteht sie ihre Studie als einen Beitrag zu einer Geschichte der Kindheit. [2] Deutlich aber wird auch: Wer von der Geschichte spricht, kann von den Kindern nicht länger schweigen.
Anmerkungen:
[1] Annie Ernaux: Mémoire de fille, Paris 2016, dt. Erinnerungen eines Mädchens, Berlin 2018.
[2] Zuletzt Till Kössler: Aktuelle Tendenzen der historischen Kindheitsforschung in: Neue Politische Literatur 64 (2019), 537-558.
Claudia Moisel